Politik und Nilpferde
Alle paar Monate wieder kommt irgendwer daher und behauptet, die politische Lyrik seit tot. In seiner neuen Anthologie beweist Anton G. Leitner, dass sie keinesfalls tot ist – und es auch in den letzten fünfzig Jahren zu keinem Zeitpunkt war. Fast jedes der Gedichte in dieser kleinen lyrischen Zeitreise, die unter dem Titel „Gedichte für Zeitgenossen – Lyrik aus 50 Jahren“ nun bei dtv erschienen ist, hat eine politische Note.
Fünfzig Gedichte, eines für jedes Jahr seit 1961 (Leitners Geburtsjahr und das des dtv), eingerahmt von Pro- und Epilog mit Gedichten über Gedichte sowie einem Ausblick auf das, was kommen wird / könnte – das ist ein interessantes Unterfangen, das sich der Beliebigkeit widersetzt. Leitners Anspruch war es, eine poetische Zeitreise auf die Beine zu stellen, in der die Gedichte auch inhaltliche Bezüge zu ihrem Entstehungs- bzw. Erscheinungsjahr aufweisen. Er wollte dabei nicht kanonisch vorgehen, wie er im Nachwort schreibt: „Nicht ein kanonisches Kompendium war das angestrebte Ziel, sondern eine kompakte Poesieauswahl, die als beispielhafter Teil für all jenes stehen könnte, was sich in den vergangenen fünf Jahrzehnten (…) zugetragen hat.“ Wesentlich und beachtenswert ist aber vor allem folgender Einwurf: es wäre „vermessen, eine Aussage darüber zu treffen, ob in einem Band wie diesem die fünfzig bedeutendsten Lyriker (…) versammelt“ seien. „Aus der Vielfalt“ habe er „lediglich einige markante Stimmen herausgefiltert“.
Das ist erwähnenswert, weil eine solch realistische Distanz zur eigenen Arbeit in der Lyrikszene keine Selbstverständlichkeit ist. Wie im Werbeprospekt eines Supermarkts wird man für gewöhnlich mit Superlativen genervt, wenn die Waschzettel zur xten Anthologie mal wieder behaupten, in diesem Buch seien „die wichtigsten“ Dichter versammelt. Zuletzt bei der von Volker Demuth und Swantje Lichtenstein herausgegebenen „Universität der Luft“ (Verlag Ralf Liebe, 2011). Da hieß es: „eine Anthologie der wichtigsten Stimmen der Gegenwartslyrik“. Eine Formulierung wie „einige wichtige Stimmen der Gegenwartslyrik“ wäre ja okay gewesen, aber mal ehrlich: Zu behaupten, eine Anthologie enthalte „DIE WICHTIGSTEN“ ist unfreiwillig komisch, es sei denn vielleicht, man hält den aktuellen Conrady in Händen.
Aber Leitner ist ein Marketing-Profi, daher weiß er, dass der Hang zur Übertreibung längst kein probates Mittel mehr ist. Das will keiner mehr sehen oder hören, das ist wie der 60-Cent-Aufschnitt im Discounter, der mit Begriffen wie „Delikatess-“ etikettiert wird. Das muss nicht heißen, dass die Wurst nicht gut ist, aber die Albernheit der Etikettierung dürfte sich jedem erschließen.
Zum Buch: Die stichprobenhafte Zeitreise durch die Vielfalt und Polyphonie der Stimmen aus fünfzig Lyrikjahren ist gelungen. Interessant ist nicht nur, wie unterschiedlich die vielen Dichter Bezüge zu zeitgeschichtlichen Ereignissen mal mehr mal weniger subtil in ihre Poeme einflechten, sondern auch, wie viele dieser Gedichte ohne Verfallsdatum auskommen, wie viele von ihnen auch gerade erst gestern geschrieben worden sein könnten. Kurt Martis „klage“ nach Tschernobyl ist so ein Beispiel, aber auch Wolfgang Dietrichs „Stanze der Spekulanten“, um nur zwei exemplarisch herauszugreifen. Ein drittes, Günter Eichs „Timetable“: „Diese Flugzeuge / zwischen Boston und Düsseldorf. / Entscheidungen aussprechen / ist Sache der Nilpferde. / Ich ziehe vor, / Salatblätter auf ein / Sandwich zu legen und / unrecht zu behalten.“
Wieder, wie immer bei Leitner, sind es eingängige Gedichte – Gedichte, die sich auch Lesern erschließen, die sich nicht regelmäßig mit Lyrik befassen; Gedichte, die daher in der Lage sind, der Lyrik neues Publikum zu erschließen, weil sie selbst nicht verschlossen sind und den „Zeitgenossen“ allerlei Berührungspunkte bieten – vom Mauerbau bis zum 11. September. „Gedichte für Zeitgenossen“ ist eine Anthologie, die auch zeigt, wie sehr die Dichter Chronisten sind, die den kleinen Schwingungen und Untertönen der Ereignisse im Großen wie im Kleinen nachspüren.
Nur sehr selten findet sich mal ein Gedicht mit platter Aussage (Hans Magnus Enzensbergers „Das Einfache, das schwer zu finden ist“ ist so ein kleiner Ausfall), zumeist bieten die Verse neben dem Augenscheinlichen die Gelegenheit, einzutauchen in die Vielfalt der Themen und sprachlichen Mittel, in Metaphern, die mehr als eine Lesart zulassen, und in die Zwischendecken der Etagen, die längst unter dem Schutt geschichtlicher Sprachregelungen liegen (sollten, zumindest, wenn es nach denen ginge, deren Perspektive nur von Legislaturperiode zu Legislaturperiode reicht).
Bezeichnend dafür ist das Gedicht Michael Augustins, das auch den Buchrücken ziert, unter dem Titel „Betonlandschaft“: „Es wird / immer schwieriger, / den Kopf / in den Sand / zu stecken.“
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