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Kritik

Die Knie im Brombeergestrüpp

Hamburg

Erzählungen von Barbara Frischmuth, ausgewählt von Julian Schutting. Eigentlich sind diese beiden Namen schon alleine Grund genug, um zu diesem Buch zu greifen.

Dass Barbara Frischmuth eine großartige Erzählerin ist, muss man nicht mehr dazusagen, es ist weithin bekannt. Sie ist unumstritten eine der ganz großen deutschsprachigen Autorinnen. Dieser Umstand birgt aber auch Gefahren in sich – z.B. die Gefahr zu Schullektüre zu werden und dann, wenn man Jahre später in einem Bücherregal entdeckt wird, im schlimmsten Fall den Gedanken „Ah, kenn ich schon.“ aufkommen zu lassen. Genau gegen dieses „Ah, kenn ich schon.“ richtet sich der neue Erzählband „Bindungen“ von Barbara Frischmuth, ausgewählt von Julian Schutting und erschienen bei Residenz. Barbara Frischmuth ist nämlich nicht nur eine Autorin, die wunderbar erzählen kann, sondern auch eine Autorin, die man nicht so schnell „kennt“. Die Erzählungen werden in diesem Band wieder zugänglich gemacht. Das heißt es handelt sich nicht um aktuelle Texte von Barbara Frischmuth, sondern um bereits etwas länger zurück liegende. Die Erzählungen „Meine Großmutter und ich“ und „Und ich sah, und siehe, eine weiße Wolke ...“ wurden erstmals 1973 veröffentlicht, die Titelgebende Erzählung „Bindungen“ 1980 und die Erzählung „Otter“ 1989. Dies ist insofern spannend, da es der Band es ermöglicht Barbara Frischmuth für sich gewissermaßen „neu“ zu entdecken in ihren „älteren“ Texten.

Der Band versammelt vier Erzählungen von Barbara Frischmuth. Diese wurden äußerst sensibel von Julian Schutting ausgewählt und sind trotz ihrer Verschiedenheit sehr gut aufeinander abgestimmt. Sie zeigen Barbara Frischmuth in ihrer Vielfältigkeit. Natürlich nicht in der ganzen Breite ihrer Vielfältigkeit, denn diese ließe sich höchstens in einem Bücherregal, keinesfalls aber zwischen zwei Buchdeckeln einfangen. Verzichtet wurde beispielsweise auf einen ihre „ganz verrückten Texte“ (Frischmuth-Leser wissen, welche ich meine, noch-nicht-Fischmuth-Leser seien damit zumindest neugierig gemacht). Die Spannweite des Bandes ist aber dennoch sehr groß. Zu Beginn des Bandes in „Eine Art Einleitung“ schreibt Julian Schutting, dass ihn schlussendlich zwei Überlegungen dazu bewogen haben, gerade diese Erzählungen auszuwählen – einerseits weniger Bekanntes auszuwählen und andererseits Barbara Frischmuth in ihrer Vielfältigkeit zu zeigen:

das waren dann Tage lustvoller Lesewut, vermischt mit Verzweiflung: ein Bücherstapel vor mir, aber ein Auswahlband ist nicht ein Sammelband. letztlich hat mich eine Überlegung meine Wahl treffen lassen: was von all dem gleichwertig Eingeschätzten kennen vermutlich die wenigsten aus der großen Frischmuth-Lesegemeinde? und was davon am besten geeignet, für Barbaras sprachliche Wandelbarkeit, für die Vielfalt ihrer Themen und daher auch Techniken einzustehen?

Julian Schutting ging es also ausdrücklich auch um ein Wiederzugänglichmachen älterer Texte. Das heißt man kann diesen Auswahlband nicht nur lesen, sondern sich auch gleichsam auf Spurensuche begeben, ob in diesen älteren Texten vielleicht nicht schon etwas angedeutet ist, was dann in späteren Texten ausgeprägter zu finden ist.

Die erste Erzählung, „Meine Großmutter und ich“ beschreibt einen Machtkampf zwischen Großmutter und Enkelin. Sie ist grotesk und doch nicht weltfern. Gerade in Familien, wenn man einander besonders gut kennt, entfachen sich die verletzendsten und ernstesten Streitgespräche oft an buchstäblichen Kleinigkeiten. Bei Barbara Frischmuth ist es eben eine Nagelfeile:

Stell dich nicht so an, du wirst doch die Feile fin-
den, wenn ich dir sage, daß sie in der Küche nicht
ist.

Um diese Nagelfeile wird gezankt und gestritten, eigentlich geht es aber um ganz andere Dinge  – z.B. um einen Micky, der die Enkelin bald, gegen den Willen der Großmutter, zum See abholen kommen wird. Die Großmutter hat keine Kontrolle mehr über ihre Enkelin, versucht sie aber mit allen Mitteln wiederzuerlangen. Ihre Schimpftiraden stellen ihre Hilflosigkeit nur noch deutlicher unter Beweis. Die Enkelin verteidigt ihre Unabhängigkeit. Der Konflikt spitzt sich so zu, dass schon ein Schritt zur Seite, von den Splittern der zerbrochenen Vase, ein eingestehen der eigenen Niederlage bedeuten würde. Erzählt wird aus der Sicht der Enkelin. Daher kann man sehr gut miterleben, wie sie ihre Großmutter berechnet und taxiert, um ihren eigenen Willen durchsetzen zu können.

Je lauter sie schreit, desto kleinlauter wird sie.
Ihre Augen sind feucht. Jetzt wird sies wohl zulas-
sen, daß ich die Splitter aufkehre, damit Micky sich
nicht die Füße daran zerschneidet, wenn er kommt
und mich abholt, zum See.

„Und ich sah, und siehe, eine weiße Wolke ...“ist die zweite Erzählung des Bandes und zugleich die kürzeste. Es ist eine Vorstufe zu „Die Klosterschule“. Diese Erzählung ist extrem verdichtet, „ein Prosagedicht“, wie Julian Schutting in seiner „Eine Art Einleitung“ sehr treffend schreibt. Es geht um zwei Mädchen, die durch Fasten und Knien in der prallen Sonne in einem Brombeergestrüpp ein Wunder erzwingen wollen. Während Melanie vorgibt, dieses auch gesehen zu haben, wartet die ich-Erzählerin vergeblich auf eine Wolke im wolkenlosen Himmel:

Ich habe es sehen wollen, von Angesicht zu
Angesicht. Denn da heißt es, siehe, er kommt
mit den Wolken, und es werden ihn sehen alle
Augen. Da war keine Wolke weit und breit nicht
am Himmel, die ich hätte sehen können. Nur die
Sonne. Aber ich habe es sehen wollen, ganz im
Licht. Hell wie die Wahrheit, wenn nichts gelogen
ist.

Das Kind, gefangen in katholischer Litaneisprache und religiösem Gedankengut nimmt diese beim Wort und möchte das Wunder sehen. Doch statt zu sehen, riecht sie es. Sie geht dem trägen Geruch nach und findet schließlich etwas Unerwartetes:

Den Haselbusch hatte ich erst zur Seite biegen
müssen. Da schwirrten die Fliegen auf und schil-
lerten mit den Flügeln. Es lag in der Grube, das
Lamm. Mit zerfressenem Bauch und aufgerissenen
Augen. Das Maul hing ihm schief, als hätte es blö-
ken wollen, und auf der Zunge hatte es Schleim,
auf dem die Ameisen liefen. Einer der Hinterfüße
ragte in die Luft und gab den Bauch frei, in dem die
Därme brieten. Und die Sonne bleichte die Wolle
aus, weiß und glänzend.

Das Kind, das bedingungslos glauben und ein Wunder sehen möchte, findet ein verendetes Lamm. Im Kontext des katholischen Gedankenguts, welches dem Kind die ganze Zeit im Kopf kreist, ist natürlich die Verbindung zum Lamm Gottes sofort gegeben. Eine stärkere Metapher ist kaum vorstellbar. Diese kürzeste Erzählung wirkt daher wie eine Essenz aller Religionskritik, oder Kritik an katholischen Erziehungsmethoden, die in „Die Klosterschule“ zu finden ist.

Bei der Erzählung „Otter“ handelt es sich um ein Neuerzählen des Melusine-Stoffes. Frischmuth macht daraus ein modernes Märchen. Der Protagonist „er“ bleibt namenlos. Er ist ein Mann auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Diesem Höhepunkt ging allerdings der Tod Jörgs vorweg, mit dem ihm eine langjährige Freundschaft und Gegnerschaft verbunden hatte – beide hatten sich um die gleiche Stelle beworben. Grußlos verlässt er die Feier zu seiner Ernennung und findet sich am Parkrand wieder, wo für gewöhnlich Prostituierte anzutreffen sind.

Als er schon umkehren wollte, löste sich eine
Gestalt aus dem sachte fallenden Schnee. In einem
schmalen weißen Plastikregenmantel, weißen Re-
genstiefeln und mit einem weißen, langgriffigen
Schirm. Sie kam auf ihn zu, und ihm fiel nicht
gleich ein, was man in so einem Fall zu sagen hatte.
„Sind sie frei?“

Sie nimmt ihn mit zu ihrem Haus beim Fluss, das teilweise auf Stelzen steht. Ihr Name ist Otter und alles in ihrer Umgebung hat mit Wasser zu tun. Es schneit oder regnet die gesamte Zeit ihres Beisammenseins, das Rauschen des Flusses ist fast ständig präsent, ihr Schmuck sind Muschelperlen, sie isst gerne Muscheln, Krebse und Hummer und als er einschläft hat er einen langen und sich wiederholenden Unterwassertraum. Er weiß nicht, wo er sich befindet und bald verliert er auch jegliches Zeitgefühl. Es gibt nur eine einzige Regel – er darf ihre nackten Füße nicht sehen – und selbstverständlich kann er seine Neugier nicht bezwingen und beobachtet sie heimlich beim Bade.

Die letzte, längste und zugleich titelgebende Erzählung ist „Bindungen“. Fanny, eine Archäologin erholt sich von Liebeskummer und Krankheit in der Familienidylle ihrer Schwester Malwine. Diese lebt das perfekte Familienleben – sie ist die perfekte Hausfrau, hat ein wunderschön renoviertes Haus im Grünen, ein aufgewecktes Kind, einen erfolgreichen Ehemann und auch noch einen Hund dazu. Doch ist ihre Schwester wirklich glücklich? Oder ist doch alles nur Fassade? Fanny kann es nicht glauben und beginnt – nicht umsonst ist sie Archäologin – systematisch Probebohrungen durchzuführen um zu sehen, was sich unter der heilen Oberfläche verbirgt. Dass unter der Oberfläche doch nicht alles so perfekt und glücklich ist, dafür spricht schon die unverhältnismäßig schockierte Reaktion der Schwester Malwine, als Fanny mit dem Sohn Zeno auf der Wiese beginnt, eine Grabung anzulegen:

Mit einem Spatenstich habe ich einen Regenwurm
in zwei Hälften geteilt, und während ich zuschaue,
wie nun zwei Regenwürmer sich in verschiedene
Richtungen bewegen, höre ich den entsetzten Auf-
schrei von Malwine, die plötzlich neben uns steht.
„Was macht ihr denn hier?“ fragt sie völlig ent-
geistert. Ich habe sie schon lange nicht mehr so
fassungslos gesehen.
„Wir graben nach Waffen und alten Knochen“,
sagt Zeno, „von den Kelten oder von den Illyrern,
siehst du das nicht?“

Das wesentliche ist nicht das, was ausgesprochen wird (denn die beiden Schwestern kennen sich viel zu gut und wahren in fast allen Situationen den Schein) sondern all das, was ungesagt mitschwingt. Dies ist auch die Stärke dieser Erzählung – Frischmuth gelingt es hier das Unausgesprochene unglaublich greifbar zu machen. Spannend ist das feine Spiel des Ungesagten. Die Regeln dieses Spieles werden fast immer eingehalten. Eine Ausnahme stellt der Sohn Zeno dar, der gegen Schluss offen ausspricht, dass etwas nicht stimmt. Alle anderen Figuren würden das sehr überzeugend abstreiten.

„Du bist in Wahrheit eine böse Hexe, die meine
Eltern vergiftet hat.“
„Nicht vergiftet.“
„Die meine Eltern verzaubert hat, um mich für
sich allein zu haben.“

Fanny ist für sich an einem Wendepunkt angelangt, sie muss Entscheidungen treffen, fühlt sich dazu aber nicht imstande. In dieser Situation versucht sie andere Rollen durchzuspielen – wie wäre es der Vater von Zeno zu sein? Wie die perfekte Hausfrau, die ihre Schwester verkörpert? Dabei geht sie sehr rücksichtslos vor. Sie wendet sehr viel Zeit auf um den wunden Punkt ihrer Schwester zu finden, an dem sie sie wirklich treffen kann. Es geht um ein Kräftemessen zwischen den beiden Schwestern. Fanny, zunächst der Eindringling in die Familienidylle, nimmt zunehmend den Platz ihrer Schwester ein. Als erstes war der Hund auf sie zugekommen:

Der Hund, ja, er ist mir als erster entgegenge-
kommen.

Dieser Gedanke beschäftigt sie immer wieder. Der Sohn ist ihr anfangs feindlich gesinnt, doch auch ihn gewinnt sie für sich, und schließlich beginnt sich auch noch eine Affäre mit ihrem Schwager Jacob anzubahnen. Diese schrittweisen „Eroberungen“ werden in deutlichen Bildern markiert – der Morgen an dem sie nicht nur den Hund, sondern auch Zeno in ihrem Bett vorfindet, oder der Tag am See, an dem sie ganz in die Rolle der Schwester schlüpft:

Zeno hat den Korb ans Feuer geholt, und ich
kann nicht aufhören mit dem Anbieten und Aus-
teilen. Es tut mir unendlich wohl, den beiden etwas
zu essen zu geben, es ihnen tatsächlich mit meiner
Hand zu reichen, auch wenn ich es nicht selbst zu-
bereitet habe, aber inzwischen erliege ich bereits
der Fiktion, ich und nicht Malwine hätte den Korb
gepackt.

Beide Schwestern versuchen übertriebene Rollenbilder nachzuleben – Malwine das der traditionellen, perfekten Hausfrau und Fanny das der intellektuellen Frau in der Wissenschaft, die selbstverständlich ungeeignet für ein Familienleben ist. Beide Rollenbilder werden so überspitzt gezeigt, dass ihre Künstlichkeit, Klischeehaftigkeit und Lächerlichkeit sichtbar werden.

Alles in allem hat man mit „Bindungen“ einen sehr ausgewogenen Erzählband vor sich, der vier starke Erzählungen von Barbara Frischmuth versammelt. Auch weckt der Band Lust, das nächstgelegene Bücherregal nach bisher noch nicht gelesenen Büchern der wunderbaren und unglaublich wandlungsfähigen Barbara Frischmuth zu durchsuchen.

Barbara Frischmuth
Bindungen
Residenz
2013 · 176 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
9783701716173

Fixpoetry 2013
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