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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Logokratie?

Hamburg

Wer wünschte sich nicht, daß Macht und Vernunft im Einklang agierten? Indes, so zeigt der vorliegende Band, mag die Vernunft selbst an der Möglichkeit dieses Einklangs am nachhaltigsten zweifeln. Welche Vernunft wäre denn dann an der Macht? Wäre sie dann noch Vernunft, oder korrumpierte die Macht ihre Beraterin, die sich als Regentin bloß mißverstand, sogleich?

Dieser Frage gehen in ihren Spannungsübungen zwei sehr unterschiedliche Denker nach, zum einen der Provokateur Boris Groys, der noch immer die Frage der Antwort vorordnet, dekonstruktiv verfährt und Kierkegaard und Nietzsche als Ahnherren nennen kann, und zum anderen Vittorio Hösle, der auf die Vernunft setzt, auch wenn diese selbst dann Modi der Vernunftanwendung formulierte, ein Hegel Habermas Verwandter.

Das Resultat ist ein spannendes Duell, das genaue Beobachtungen und klare Argumentationen in Konstellationen stellt, sekundiert von den Herausgebern Luca Di Blasi und Marc Jongen, von denen auch ein kluger Epilog beigefügt wurde. In diesem Dialog lernt man nicht zuletzt, daß auch der absolute Geist sozialisiert wurde, daß andererseits die Dekonstruktion sich vielleicht ebenso manche Faszination leistet, kurzum die Konstellation immerhin dem in die Hände spielt, der hier der Vernunft mißtraut – wenn man den Fehler (und ob es einer ist, das mag die Frage sein) begeht, das Mögliche und Faktische mit dem Anspruch gleichzusetzen.

Dieses Feld wird kenntnisreich verhandelt, mit Rückgriffen auf die Frage, ob man vor der Französischen Revolution „konservativ” sein konnte, wer das Wir in der Demokratie konstituiere und sie das Erbe der Gelehrtenrepublik, die die res publica doch einigermaßen exklusiv imaginierte, hinter sich gelassen habe; oder auch: hinter sich lassen könne. Diese Fragen, die auf dem ICI, das im Hintergrund der Veranstaltung steht, auch bei anderen Gelegenheiten1 schon diskutiert wurden, was man bei den  Moderationen nicht überhören wird, sind spannende und nie bloß Sidesteps, um das Duellmotiv aufzugreifen, auch nie bloße Gelehrsamkeit.

Dabei wird die Vernunft, wird aber auch die Macht begrifflich konturiert – wobei man sich wünschen mag, es wäre nicht nur die Vernunft als polymorph gedacht worden, sondern auch die Frage nachdrücklicher gestellt, ob es denn die Macht gebe. Und es wird en passant gezeigt, daß alle Theorie – wie alle Vernunft – manchmal vor dem Rätsel steht, zu wirken und zugleich zu erodieren. Krisenresistenz scheint aber mit der Möglichkeit des Rückgriffs verbunden zu sein, nur, was als Frage gestellt ist, überlebt als Problem die Gewohnheit gewordene Antwort. Das wäre fast schon die Bilanz, der aber keiner der beiden Kombattanten so zustimmte, womit nur eines bleibt: Man muß das Buch selbst lesen, man wird es mit Gewinn und Vergnügen.

1  cf. etwa http://www.ici-berlin.org/docu/jacques-ranciere/2/ (Stand: 13.3.2012)

 

Boris Groys · Vittorio Hösle · Luca Di Blasi (Hg.) · Marc Jongen (Hg.)
Die Vernunft an die Macht
Ein Streitgespräch
TURIA + KANT
2011 · 110 Seiten · 14,00 Euro
ISBN:
978-3-851326536

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