Aufzeichnungen aus dem Gefängnis
Der frisch gekürte Premierminister sagte: „Die Pressefreiheit ist unsere rote Linie.“ Sein erster Akt war es, die rote Linie zu überschreiten.
Das schreibt Can Dündar über den 24. November 2015, den Tag, an dem er die gerichtliche Vorladung erhielt. Die neue Regierung unter Premierminister Ahmet Davutoglu war gerade angetreten. Aber erst nach einem zweiten Wahlgang. Der erste Versuch der Parlamentswahlen lief nicht gut für die regierende AKP: sie wurde von den Wählern deutlich abgestraft, hätte in eine Koalition mit der CHP einwilligen müssen. Also blockierte sie die Koalitionsverhandlungen und erzwang dadurch Neuwahlen.
Den Absturz hatte sie, wenigstens zum Teil, auch Can Dündar zu verdanken. Nur wenige Tage vor dem Wahltermin veröffentlichte er als Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet ein Video, das eindeutig Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an Extremisten in Syrien belegte. Der Verdacht hatte schon länger im Raum gestanden, nun war er belegt. Erdogan tobte. Als es auf den neuen Wahltermin zuging, kündigte er einen Krieg gegen die Presse an, kündigte die Friedensgespräche mit der PKK auf, provozierte in jede Richtung, verbreitete Angst. Es folgten mehrere Terroranschläge. Die Losung der AKP: Nur mit uns kehrt wieder Ruhe ein. Die Rechnung ging auf.
Und der Kampf gegen Presse- und Meinungsfreiheit bekam eine neue Qualität. Allerdings war es da formaljuristisch schon zu spät für eine Anklage gegen Dündar. Die Viermonatsfrist war verstrichen.
Ich ging zu meinem Büronachbarn Akin hinüber und fragte ihn: „Was meinst du?“
Er lachte. „Sie haben den Zug verpasst.“ Als Jurist war ihm die Schwäche zu eigen, an das Rechtswesen zu glauben.
Und Dündar sollte Recht behalten mit seinem Galgenhumor. Die Staatsanwaltschaft konstruierte eine hanebüchene Anklage, bezeichnete Dündar und seinen Kollegen Erdem Gül (damals Hauptstadtchef der Cumhuriyet) als Spione, rückte sie in die Nähe von Terroristen, bezichtigte sie der Kooperation mit dem Gülen-Netzwerk, das, seit Fethullah Gülen und Recep Tayyip Erdogan sich überworfen haben, für alles und jeden verantwortlich gemacht wird.
Wenige Tage später werden Dündar und Gül verhaftet und ins Gefängnis Silivri nahe Istanbul gebracht, wo man sie in Isolationshaft sperrt. In den angrenzenden Zellen sitzen die Chefredakteure des Magazins Nokta, und Dündar witzelt über den Namen des Gefängnisses: Campus von Silivri, das sei sogar zutreffend, wenn man bedenkt, wie viele Schriftsteller, Journalisten, Künstler hier einsitzen.
Noch am selben Tag bricht eine internationale Welle der Solidarität los: der PEN, Reporter ohne Grenzen und große Medienhäuser in aller Welt fordern Dündars Freilassung, während er in Haft sitzt werden ihm Preise verliehen, US-Vizepräsident Biden trifft sich mit Dündars Frau und Sohn und sendet damit ein klares Signal an die türkische Regierung. Die Haftzeit beschreibt Dündar nicht wie ein unterdrückter Gefangener, sondern mit der Neugier des Journalisten: wie er sich die einsamen Tage vor grauen Mauern verkürzt, etwa indem er Bücher liest und sagt: Endlich habe ich mal die Zeit und Ruhe dafür. Der Humor vergeht ihm nicht, und auch nicht das Engagement. Über seinen Anwalt schmuggelt er Artikel aus Silivri heraus, die in mehreren Ländern erscheinen. Abgeordnete der Oppositionsparteien CHP und HDP besuchen ihn, sprechen ihre Unterstützung aus; Freunde und Kollegen halten vor dem Gefängnis Mahnwachen ab.
Aber es geht auch um die Lage in der Türkei, um den Aufbau einer Diktatur, um die Abschaffung des Rechtsstaates. Um einen Präsidenten, der sagt, sein Land habe „die freieste Presse der Welt“ während reihenweise Redaktionen geschlossen, Zeitungen verboten, Pressevertreter verhaftet werden. Aber auch auf die Bundesregierung geht Dündar ein: Seit diese mit der Türkei den Flüchtlingsdeal verhandelt, wird die Menschenrechtslage ignoriert. Die nach innen propagierten Werte spielen außenpolitisch keine Rolle.
Am Ende hatten Dündar und Gül, die die letzten Wochen ihrer Haft in einer gemeinsamen Zelle verbringen konnten, Glück: Mitte Februar 2016 beendete das Verfassungsgericht ihre Haft. Die dafür verantwortlichen Richter wurden inzwischen abgesetzt. Sie waren die letzten, die sich der AKP noch in den Weg gestellt hatten.
Can Dündar lebt derzeit in Deutschland – in der Türkei würde er umgehend wieder festgenommen. Das zwischenzeitlich ergangene Urteil lautet: Fünf Jahre Gefängnis. Seine Frau darf die Türkei nicht mehr verlassen. Ihr Reisepass wurde für ungültig erklärt.
Dündars Buch ist ein wichtiges Dokument, sein Schicksal stellvertretend für das Hunderter Kollegen in der Türkei, die der brutalen Willkür der Staatsmacht ausgesetzt sind. Ein Land, das die Meinungsfreiheit unterdrückt, kann keine Demokratie sein. Gerade deswegen ist es so wichtig, nicht zu resignieren, sondern weiterzumachen, auch wenn die zur Verfügung stehenden Mittel nur ein Bleistift und ein Zettel aus der Gefängniskantine sind ...
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