Die große und die kleine Welt
„Wir sehen die kleine, dann die große Welt“, verspricht Mephisto Faust und ein bisschen ist man bei Charlotte Ueckerts Lyrikband „Ein Reh auf der Chaussee“ an diesen Satz erinnert, auch wenn die Autorin im Gegensatz zu Goethe in der großen Welt nicht Zeit und Raum aufhebt. Und doch beginnt die Reise im ersten, „Belebte Welt“ genannten, Teil in nahen Gärten um im letzten Teil in Tasmanien zu enden.
„Keine Pflanze im Garten / Steht für sich / Sie vermengt den Blätterschwall / Und kann nichts dafür / Wenn sie zur anderen Seite schwankt“.
Wie man schon an diesem Gedicht sehen kann, sind die Naturbeschreibungen kein Selbstzweck, sondern sind Bilder für grundlegende Fragestellungen.
„Komm du schöner/ Kreisender Habicht / Über dem Garten / Am Rande vom Wald / Lockt der Mohn /Aus dem Haus Rosen / Glockengeläut und / Die kleinen zwitschernden / Vögel die vor dir / Und dem Traum vom / Wegfliegen mich mahnen“.
Wie viele Gedichte lebt auch dieses durch die Aufzählung einzelner Beobachtungen und durch die Inversion im letzten Vers. Hinzu kommen an anderer Stelle oft überraschende Zeilensprünge, die mögliche Aussagen in ihr Gegenteil verkehren. Dazu zwei besonders gelungene Beispiele aus dem Kapitel „Die zyklische Freude“ / „Reisegedichte“:
Im ersten Gedicht geht es um das Volk, das „nach Lourdes weltfern gereist“ ist und über das es kritisch unter anderem heißt: Es isst und trinkt nicht / Nur Manna und heiliges Wasser“.
Und das zweite Gedicht lautet:
Was ist ein Dreißigjähriger gegen / Einen Hundertjährigen / Krieg /Niemand gibt freiwillig was / Einmal sein war / Wir kolonisieren uns touristisch / Oder suchen Heimat wo sie / Vielleicht einmal war für / Die Vorfahren / Wir spielen auf der Flöte / Des Fremden / Ich bin ein Wir / Du bist ein Ihr / Von Ferne die und sie“.
Bei der ansprechenden Reise durch die Welt wird natürlich auch die Liebe gestreift. „Es nimmt dir die Sprache / Dass jemand dich liebt / Außer denen die’s müssen“, lauten beispielsweise die schönen Verse aus „Dein Leben wird sich ändern“. An anderer Stelle schreibt die Autorin „Die Zeit mit Dir / War immer großes Kino“ und ein paar Zeilen weiter: Im kleinsten Zimmer / War alles bel étage“.
Aber auch weniger angenehme Erinnerungen beschäftigen die Autorin, trifft sie doch bei ihren Reisen auf Orte, die von kriegerischer Vergangenheit berichten. So geschah es in den französischen Bastiden, wo es „wunderbare / Marktplätze / zum Vierteilen von /Bauernaufständlern“ gab oder sie beschreibt das „Städtchen Sarlat“ mit einer „Burg die im Volk Arche / Des Satans heißt“.
Alle thematischen und sprachlichen Facetten der Autorin finden sich im letzten Teil des Bandes wieder. Er heißt „Der Welt andere Seite oder: Liegt Tasmanien im Paradies?“ mit dem Untertitel: Notate, geschrieben auf dem Besitz einer tasmanischen Lady“. In insgesamt 55 Gedichten, mal länger mal kürzer, oft weitaus mehr als Notate, beschreibt Charlotte Ueckert ihren Aufenthalt auf diesem Flecken Erde. Durch die Anzahl der Gedichte findet alles seinen Platz. Beschreibungen der Schönheit der Natur, die Gefährlichkeit der Naturgewalten, Kritik an der Art, wie die Menschen sich die Insel untertan machen, aber auch Gefühle von Begeisterung, durch das Heimweh schimmert. Besonders hier zeigt sich Charlotte Ueckert als vielfältige Lyrikerin.
„Glänzende Tage in Herbstkühle / Fruchthülsen finde ich leer / Und vertrocknet / Die Schlange sucht immer noch / Ich zähle die Tage bis zum Erwachen I Im alten Teil der Welt“.
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