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Kritik

Der Hipster, der „rebel consumer“ in einer bunten Warenwelt, ist jedoch weit davon entfernt, wirklich Gegenkultur zu leben.

Hamburg

Das Titelbild des Buches zeigt schematisch schwarzweiß einen ramponierten Bus, auf dessen Zielschild vorne oben das Wort „CRISIS“ steht. Das erinnert stark an den flippig-bunt angemalten Schulbus der Merry Pranksters, einer Gruppe kalifornischer Künstler, Bürgerschrecks und LSD-Befürworter, die Anfang der 1960er Jahre von Ken Kesey gegründet worden ist. Denn deren Bus zierte seinerzeit als Zielschild das Wort „Further“, also „weiter“. Und genau diese Merry Pranksters kann man genauso als destruktive Charaktere bezeichnen, wie dieser Begriff auch auf die heutigen Hipster zutrifft. Aber auch die beiden sehr unterschiedlichen Busse verdeutlichen dabei den wesentlichen Unterschied. Während die damaligen Hipster (das fing mit den schwarzen US-amerikanischen Jazzmusikern in den 1950er Jahren an, und wurde dann von den weißen Outlaws der Beat Generation aufgegriffen, den sogenannten „White Negroes“) authentisch waren, bunt, schrill, und wirklich Leben und Kunst in sich vereinigten, damit aber auch eine Hoffnung hatten, dass sie damit die gesellschaftlichen Bedingungen auch wirklich verändern können (im Sinne eines „further“), eine Hoffnung ausstrahlten, befindet sich der heutige Hipster in den Zwängen des Kapitalismus, er ist nicht authentisch, sondern agiert eher symbolisch, kein wirkliches Aufbegehren. Deswegen hat er auch kein wirkliches Ziel, denn er befindet sich dauerhaft in der Krise (des kapitalistischen Systems), aus dem er auch durch eigenen Anstrengungen nicht herauskommen mag bzw. kann. Sein Transportmittel, sein ausrangierter Bus, ist nur noch Schrott.

In den insgesamt zwölf Beiträgen (inklusive der Einleitung von den beiden Herausgebern) wird auch immer mal wieder Bezug genommen auf die Namensgeber, die Hipster der 1950er Jahre. Verwiesen wird dazu auch mehrmals auf das legendäre Essay „A Portrait of the Hipster“ von Anatole Broyard aus dem Jahr 1948. Auch Norman Mailers Essay „White Negroes“ von 1957 bzw. Jack Kerouacs Buch „On the Road“ sind wichtige Manifestationen des damaligen Hipsters. Als neuzeitlicher Referenzpunkt wird aber auch immer wieder „What Was the Hipster?“ genannt, das 2010 von Mark Greif herausgegeben worden ist und als „die bisher einzige maßgebliche Veröffentlichung zum Thema“ gilt.

Die Einleitung ist die Klammer, die die teils sehr unterschiedlichen Textbeiträge zusammenheftet. Den gleichen Zweck hat auch der Begriff „destruktive Charaktere“, der bereits im Titel verdeutlicht, dass es nicht nur um den zeitgenössischen Hipster geht, sondern auch um andere Randexistenzen mit ähnlich prekärer Haltung. Namensgeber ist übrigens Walter Benjamin, der bereits vor dem zweiten Weltkrieg den kurzen Text „Der destruktive Charakter“ geschrieben hat. Heutzutage ist dieser Text Teil der Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1 (1920-1940), die 1955 von Theodor W. Adorno herausgegeben und im Suhrkamp Verlag erschienen sind. In der Einleitung zeigen Wilpert und Zwarg sehr schön, dass der damals von Benjamin beschriebene Typus „destruktiver Charakter“ sehr passend den heutigen Hipster und ähnliche Gestalten beschreibt. Sie verwenden „Benjamins Miniatur [deshalb auch] als Deutungsrahmen“. Damit gehört der heutige Hipster zu der Gruppe von Leuten, „an denen sich die gegenwärtigen Entdifferenzierungs- und Krisentendenzen am deutlichsten manifestieren: Auch sie sind jung, heiter, immer frisch bei der Arbeit; auch sie sehen nichts Dauerndes und ihnen schwebt kein Bild vor; auch sie sind die Feinde des Etui-Menschen [das ist das Durchschnittssubjekt bei Walter Benjamin, das es sich bequem macht in seinem Gehäuse]. Auch sie haben das Bewusstsein, dass alles schiefgehen kann.“

Die einzelnen Beiträge nähern sich ihrem Thema, dem heutigen destruktiven Charakter, auf ganz unterschiedlichen Wegen und betrachten ihn aus verschiedensten Perspektiven. Über das Bildungsversprechen, das noch für die Babyboomer gegolten hat, das aber für den heutigen Hipster nicht mehr gültig ist. Über den Hang zur „Trash“-Kultur, auch weil der Verdacht besteht, „dass der Mainstream schon immer Müll war“. Über Triggerwarnungen, die einen letztendlich vom kritischen Denken abhalten sollen. Über das „Sich-aushalten-können“, sich nämlich nicht durch das Smartphone, das einem das Warten quasi abnimmt, zum Leibeigenen des Kapitals machen zu lassen, sondern das Warten-können als eine Form des Protestes zu begreifen. Über das Kind im Hipster. Über das neu entdeckte Handwerk und Bärte. Über das „Zentrum für politische Schönheit“ von Philipp Ruch, das aber kritisch gesehen wird, obwohl es ganz sicher zu den destruktiven Charakteren zu zählen ist. Über das bedruckte T-Shirt als Träger von (nicht-authentischen) Haltungen, da es doch nur eine kulturelle Wiederholung darstellt. Über Hip Politics: dem Vorwurf der Apolitizität gegenüber dem Hipster, wegen seiner Ironie. Der Apriorismus, dieser symbolischen Überlegenheit, die Anatole Broyard bereits beim ursprünglichen Hipster als wesentlich ausgemacht hat, und die auch beim heutigen Hipster eine wesentliche Rolle spielt. Über die Serien „Girls“ und „Broad City“ als Beispiele prekär Beschäftigter in der Kreativbranche. Über die Beschäftigung  mit dem Hipster in der Literatur.

Wer sich einen Überblick über aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen machen möchte, gerade auch im alternativ-künstlerischen (und damit prekären) Bereich, der doch meistens Teil der Kulturindustrie ist, und somit vom Kapitalismus zum Großteil auch immer subsumiert und damit entwertet wird (im Sinne von Adorno und Horkheimer), dem sei dieser Sammelband durchaus wärmstens zu empfehlen.

Chris W. Hilpert (Hg.) · Robert Zwarg (Hg.)
Destruktive Charaktere · Hipster und andere Krisenphänomene
ventil verlag
2017 · 144 Seiten · 14,00 Euro
ISBN:
978-3-95575-057-2

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