Kleinpolnische Hermetik
Nennen wir das, was Christoph Georg Rohrbach in "O." macht, "Reisegedichte"? – Alle zehn Gedichte des parasitenpresse-Heftchens im gewohnten Format tragen die Namen von Ortschaften oder Plätzen in der historischen Landschaft Kleinpolen; die meisten haben als Ausgangspunkte Orts- und Landschaftsbeschreibungen, in denen offenkundig mehr historisches Material aufgerufen wird, als ich nach einer Stunde an der Google-Maschine überblicken kann; diesem hermetischen Anspielungsreichtum (was, wie wir an diesem Beispiel sehen, kein Paradoxon ist) muss natürlich ein klar bestimmtes Textsubjekt gegenüberstehen, das sich in "O." übrigens nicht allzusehr vordrängt, aber seinen Job erfüllt, die Gedichte zusammenzuhalten. Bis auf das letzte – es heisst "wieliczka ABGESANG OHNE STOLLEN" – sind alle Texte in drei gleichförmig vierzeilige Strophen gegliedert, oder nennen wir sie, mit Rohrbach, Stollen …
… wobei, "Stollen" steht in jenem Titel wohl hauptsächlich, um auf den Salzbergbau in Wieleczka zu verweisen, der (so nehmen wir an?) nicht mehr im Untertagebau betrieben wird; dass "Stollen" als Gliederungsbezeichnung eine bestimmte Tradition des Lyrikmachens und über-Lyrik-Redens aufruft, die sich nicht zuletzt barockem deutschsprachigen Schreiben in just der heute polnisch- und tschechischsprachigen Region verdankt, durch die dieses lyrische Ich in "O." reist bzw. wandert, ist dann eher so eine Fügung der Hermetik.
Es gibt da also neun strenge Zwölfzeiler, Dreistropher, die vom Prinzip her so funktionieren: Erstens die Landschaft, zweitens die Historie, drittens das Ich, in dessen Reflexion wiederum der Umschlag zurück zur Landschaft stattfindet … wobei die Form in ihrer Strenge nahelegt, dass stets jede dieser drei Ausdehnungs- oder Reflexionsstufen zugleich als Parabel der anderen beiden zu lesen sein ist … und es ist sicher kein Zufall, dass wir im zehnten Gedicht, dem weniger offensichtlich überformten, die folgenden zwei Zeilen finden können:
epoche ist landschaft
nicht mein tätigkeitsbereich
Obwohl an einigen Stellen eindeutig als Produkt des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts markiert, ist das Bändchen mehrfach anachronistisch: Die Barockverweise; das inhaltliche Geschichts- und Fremdenführerzeug mit den grössten Hits aus vier Jahrhunderten; dann auch die Form des hermetischen Naturgedichts selbst …
Darüber, warum es, angesichts dieser anachronistischen Züge, "O." überhaupt gibt – was da zusammengeführt werden soll und warum – darüber klärt uns eventuell der Titel "O." selber auf. Dieses "O." ist nicht einfach eine staunende Leerstelle (Loch, Laut, Wunder) – der Punkt hinter dem Anlaut, also just der Akt des Anonymisierens, macht uns klar, dass da ein Eigenname gemeint (und auf ein Kürzel reduziert) ist; die Art der Gedichte sagt uns, die Frage müsse wohl prinzipiell beantwortbar sein; die Reihe der Texttitel weist uns darauf, welche Art von Eigennamen in Frage kommen: Gesucht wird eine grössere Ortschaft oder Stadt in Kleinpolen, um die sich die anderen verhandelten Plätze mitsamt ihren Geschichten gruppieren lassen; Geschichten, die sich den Landschaften selbst einschreiben und besser nur zwischen Zeilen, hermetisch, verhandelt werden; erster Buchstabe der Ortschaft oder Stadt O.; es geht auch irgendwie um die Beziehung zwischen Polnischem und Deutschem in den Texten …
… Und spätestens, wenn man es sich so vorformuliert und dann noch auf der Landkarte Nachschau hält, wird klar, dass es um Auschwitz geht, polnisch Oświecim. Nun lesen wir die Gedichte noch einmal, und die bereisten Landschaften und Erinnerungsspuren nehmen andere Bedeutungen an. Plötzlich erschließt sich uns der formstreng-hermetische Stil, der von vornherein daherkam, als seien Vorkriegs-Blümchenkitsch und Nachkriegs-Kahlschlag eben erst frisch überwunden und als klafften da noch Wunden – genau so ist es nämlich, sagen Rohrbachs zehn Gedichte. Die Wunden, die Leerstellen sind noch da.
Wie uns, ganz unhermetisch, ein Blick in die polnische Tagespolitik (und nicht nur in die polnische) rasch bestätigt. Als kürzlich Katarzyna Wielga-Skolimowska, Leiterin des Polnischen Instituts in Berlin, abrupt gefeuert wurde, fand sich in dem Schreiben des polnischen Botschafters zur Causa die Formulierung, man solle es
mit der Hervorhebung des polnisch-jüdischen Dialogs nicht (…) übertreiben.
Hermetische Lyrik funktioniert genau, weil sie in ihren Leerstellen einen Katalog an notwendigen Referenzpunkten speichert, der zugleich als Bildungskanon und Begriff vom Menschen gelesen werden muss. Ihre Verfahren verankern eine bestimmte Art von Gedächtnis genau dadurch, dass sie es verschweigen, man könnte sagen: Im Schweigen. "O." ist kein Update dieses Verfahrens, sondern seine getreue Anwendung. Damit ist gesagt: "O." funktioniert, weil tatsächlicher Fortschritt im Lauf der letzten siebzig Jahren im Große und Ganzen ausgeblieben ist.
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