Die andere Seite der Moral
Die schwindende Präsenz eines ernstzunehmenden Wissenschaftsfeuilletons in den großen Tageszeitungen hat vielleicht dazu beigetragen, dass ein gewisser Rechtfertigungsdruck zum Dauerbegleiter der Geistes- und Sozialwissenschaften geworden ist. Am Beispiel der Soziologie sprach die Schweizer Autorin Daniela Kuhn in der NZZ unlängst von einer „überforderten Wissenschaft“, die zu aktuellen und künftigen gesellschaftlichen Fragen außerhalb der Fachwelt kaum mehr Stellung beziehen kann. Woran das im Einzelnen liegt, wird in Kuhns Artikel anhand von Aussagen des Basler Soziologieprofessors Max Bergman analysiert.
Doch gleich, zu welchen Ergebnis man bei der Ursachenforschung dieser Sinnkrise auch kommen mag, eines scheint festzustehen: es gab diese Zeit, in der Geistes- und Sozialwissenschaftler auf Ereignisse und Phänomene der Gegenwart reagiert haben und versuchten, diese einer breiten Öffentlichkeit zu erklären. So zum Beispiel der weltweit vielleicht bekannteste Sozialanthropologe Claude Lévi-Strauss, der zwischen 1989 und 2000 in sechzehn Artikeln für die italienische Tageszeitung La Repubblica genau das tat. Mit dem Band Wir sind alle Kannibalen erscheinen diese gesammelten Artikel nun erstmals auf Deutsch. Der darin enthaltene Text Gesellschaftliche Probleme: Weibliche Beschneidung und assistierte Reproduktion (Erstdruck 1989) zeigt dabei gleich in mehrfacher Hinsicht, dass die Ausführungen des Franzosen auch heute noch überaus aktuell sind.
Lévi-Strauss berichtet darin zunächst von einer gewissen Krise der Ethnologie, die darin gründete, dass einst kolonialisierte Länder den Ethnologen vorwarfen, „ihre wirtschaftliche Entwicklung zu hemmen, indem sie das Überleben alter Bräuche und veralteter Glaubensvorstellungen unterstützen.“ Zudem, so Lévi-Strauss, hatten immer mehr indigene Völker mit ausgeprägtem Bewusstsein ihrer ethnischen Persönlichkeit das Gefühl von parasitären Akademikern als Studienobjekte ausgebeutet zu werden.
„Schon vor fünfzig Jahren sagte man in den Vereinigten Staaten in Berufskreisen spaßeshalber, eine Indianerfamilie bestehe aus mindestens drei Personen: dem Mann, der Frau und dem Ethnologen ... “
Lévi-Strauss macht keinen Hehl daraus, dass sich die Situation schnell verschärfte und verdeutlicht, dass sie von Seiten des Faches sehr ernst genommen wurde. Ein bemerkenswerter Ausgleich stellte sich jedoch dadurch ein, dass mitunter die Hilfe von Ethnologen seitens verschiedener Indianerstämme gesucht wurde, um vor Gerichten ihre angestammten Rechte an Ländereien geltend zu machen.
Eine Tendenz, die sich auch auf französische Gerichte übertrug, vor denen, infolge der zunehmenden Einwanderung aus Schwarzafrika, Ende der 1980er Jahre vermehrt Ethnologen zu Wort kamen, um ihre Einschätzungen hinsichtlich extrem strittiger Themen wie etwa der Beschneidung weiblicher Kinder abzugeben. Schon damals brisant war Lévi-Strauss' Haltung hinsichtlich dieses Themas, da er vor allem im Hinblick auf die Frage nach der körperlichen Unversehrtheit des Kindes die weibliche mit der männlichen Beschneidung gleichsetzte. Damit sprach Lévi-Strauss bereits ein generelles Problem an, dass hierzulande erst 23 Jahre später, nämlich im Dezember 2012 im Bundestag debattiert wurde.
Darüber hinaus setzte sich Lévi-Strauss jedoch nicht nur mit den rechtlichen und moralischen Folgen des Zusammenlebens verschiedener Ethnien auseinander, sondern auch mit den allgemein sich verändernden Lebens- und vor allem Ernährungsumständen in Europa. Unter anderem im titelgebenden Artikel Wir sind alle Kannibalen (1993) verdeutlicht er, wie ununterscheidbar die Begriffe „Barbarei“ und „Zivilisation“ mitunter sein können. So verweist Lévi-Strauss darauf, dass der Kannibalismus, wie er zum Beispiel in Papua-Neuguinea betrieben wurde und dort für die epidemieartige Verbreitung der Kuru-Krankheit verantwortlich war, in der westlichen Welt als abstoßend gilt. Gleichzeitig gibt er jedoch zu bedenken, dass die in der „zivilisierten Welt“ bekannte Creutzfeldt-Jakob-Krankheit „infolge von Injektionen mit Hormonen, die menschlichen Hypophysen entnommen wurden, oder infolge von Verpflanzungen von Membranen aufgetreten sind, die aus menschlichen Gehirnen stammen.“
Wie er in einem anderen Artikel erklärt (Der Beweis durch einen neuen Mythos, Erstdruck 1999), ist der angebliche Missbrauch solcher Analogien ein Hauptkritikpunkt am Strukturalismus, wie ihn Lévi-Strauss vertritt. Doch angesichts der krankheitserregenden Hypophyseninjektionen kann man hier wohl von einem therapeutischen Kannibalismus sprechen. Darüber hinaus gibt der Ethnologe auch den Infektionsweg über den Verzehr von mit BSE verseuchtem Rindfleisch zu bedenken und verweist darauf, dass diese Krankheit sich wiederum rasch ausbreiten konnte, da die Rinder mit Tiermehl gefüttert wurden, das aus den Kadavern ihrer (teilweise erkrankten) Artgenossen hergestellt wurde. Spätestens hier erweist sie die moralische Überlegenheit der „zivilisierten Welt“ gegenüber der „wilden Kannibalen“ als null und nichtig, wenn sie eine pflanzenfressende Spezies zum Kannibalismus zwingt. Lévi-Strauss' gedanklicher Analogienstrom reißt hier nicht ab. In geradezu verblüffender Art und Weise legt er etwa dar, welche Vorteile die Jäger-und-Sammler-Mentalität gegenüber Ackerbau und Massenviehzucht auch oder gerade heute noch hat.
Ergänzt wird der Band mit den La Repubblica-Artikel um den berühmten Essay Der gemarterte Weihnachtsmann von 1952, der hier erstmals in ungekürzter Form auf Deutsch vorliegt. Als Reaktion auf die öffentliche Verbrennung einen Weihnachtsmannpuppe vor der Kathedrale von Dijon erklärt Lévi-Strauss den Ursprung der als heidnisch-amerikanisch verschrienen Figur. Auch dieser mehr als 60 Jahre alten Text vermittelt uns noch heute anschaulich, wie innerhalb einer Gesellschaft Rituale und Glaubensvorstellungen entstehen können, wie ursprüngliche Bedeutungsinhalte neu interpretiert werden. Verraten sei an dieser Stelle nur so viel: um Coca-Cola geht es dabei erstaunlicherweise nicht.
Ob Wir sind alle Kannibalen mit einem Preis von 26,95€ bei 250 Seiten wirklich das Zeug zum Kultbuch hat, wie der Buchrücken verspricht, muss offen bleiben. Nicht nur den krisengeschüttelten Soziologen sei das Buch aber dringend empfohlen, weil hier jemand zeigt, wie man auch mit einigem Weitblick gegenwärtige Phänomene verständlich und fundiert analysiert und erklärt.
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