Ménage-à-trois
Die Zeit des Ersten Weltkrieges hat Konjunktur. Das zeigt ein Blick in die Verlagsprogramme. Nicht nur historische Fachliteratur, sondern auch erzählende Werke aus oder über die Frühphase des 20. Jahrhunderts erfreuen sich großer Beliebtheit – bei den Verlegern, aber offenkundig auch beim Publikum. Wie sonst ließe sich erklären, dass Bücher wie „1913“ von Florian Illies oder der ungleich komplexere Band „Die Schlafwandler“ des britischen Historikers Christopher Clark seit Monaten die vorderen Plätze der deutschen Bestseller-Listen belegen. In den Feuilletons wird der Hype um das hundertjährige Jubiläum des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges derzeit Tag für Tag aufs Neue befördert (um nicht zu sagen: befeuert!). Spannend zu erfahren, wenngleich unmöglich zu ermitteln, wäre freilich, wie viele der mehr als 100.000 Käufer von Clarks „Die Schlafwandler“ das knapp 1000-seitige Magnum Opus tatsächlich gelesen haben.
Anders als die Historiker, die sich von Generation zu Generation mit denselben Ereignissen befassen, dabei aber mitunter zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen, was nicht nur auf neue Quellenfunde, sondern vor allem auf die veränderten Perspektiven und Fragestellungen (Stichwort: Zeitgeist) zurückzuführen ist, hält sich die Zahl der Schriftsteller, die sich mit der Zeit um 1914 beschäftigen, in Grenzen. Eine seltene Ausnahme ist der kurze Roman „14“ des Franzosen Jean Echenoz, der gerade auf Deutsch (Hanser Verlag) erschienen ist. Das Buch entwirft ein Gesellschaftsbild des Sommers 1914, bei dem der Fokus auf dem Denken und Handeln der beschriebenen Individuen liegt, und nicht bei den Strukturzusammenhängen einer sich mobilisierenden Nation.
Es ist somit verständlich, dass die Verlage auf die Werke früherer Autoren zurückgreifen, wenn sie ein Stück vom großen Kuchen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg abhaben möchten. Dabei werden bevorzugt zwei Strategien verfolgt: Zum einen die Neuauflage bekannter Klassiker, idealerweise mit einer – wenn auch noch so kleinen – Veränderung, die der Autor irgendwann einmal vorgenommen hat, was dann gerne als literaturhistorische Sensation angekündigt wird und in ellenlangen Nachworten habilitierter Germanisten begeistert kommentiert wird (z. B. die kürzlich erschienen Neuauflage von Erich Kästners Roman „Fabian“, nunmehr unter dem Titel „Der Gang vor die Hunde“, erschienen im Atrium Verlag). Ein anderes beliebtes Vorgehen ist die vermeintliche Neuentdeckung bislang unbekannter oder verschollen geglaubter Manuskripte, was ebenfalls mindestens für eine Sensation, wenn nicht sogar, wie im Falle von David Vogels Roman „Eine Wiener Romanze“, für einen „Jahrhundertfund“ taugt.
Um es vorwegzunehmen: „Eine Wiener Romanze“ ist keine literarische Sensation und auch kein Jahrhundertfund. Auch wenn das Manuskript tatsächlich erst 2010 in Vogels Nachlass im Archiv Genazim in Tel Aviv entdeckt wurde. Stattdessen hält man einen durchaus bemerkenswerten Roman in Händen, den der 1891 geborene Vogel vermutlich im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu Papier gebracht hat. Der Autor dürfte demnach um die 20 Jahre alt gewesen sein, als er „Eine Wiener Romanze“ (der Titel stammt nicht von ihm) schrieb – was für sich genommen bereits eine beachtliche Leistung darstellt.
Die Handlung ist schnell erzählt: Der 19-jährige Michael Rost lebt – wie Vogel damals auch – in Wien, und zwar, wie man so sagt, von der Hand in den Mund. Er treibt sich in zwielichtigen Spelunken herum, gerät in Schlägereien und hört die Leute um sich herum allerlei ideologischen Unsinn daherreden. Das Vergnügen findet in erster Linie nachts statt, und ist, selbst wenn man wenig Geld hat, immer irgendwie erschwinglich. Danach geht es zurück in die bescheidenen Stuben, die für ein paar Kronen am Wiener Stadtrand angemietet sind. Soweit so bekannt.
Das Blatt wendet sich für Rost, als er den englischen Exzentriker und Millionär Dean trifft. Dieser nimmt Rost, ohne erkennbaren Grund, unter seine Fittiche und stellt ihm eine beachtliche Summe Geld zur freien Verfügung. Glaubt man zunächst, Vogel bewegt sich auf den Spuren von Huysmans, der in seinem Klassiker „Gegen den Strich“ (Original: „A rebours“) mit der zerstörerischen Kraft des Geldes im Leben eines jungen Habenichts experimentieren lässt, wird man im Laufe der Lektüre eines Besseren belehrt. Der großzügige Gönner verschwindet geräuschlos wieder von der Bildfläche. Die Wohltat hatte einzig und alleine den Zweck, den Rahmen für die eigentliche Geschichte zu schaffen.
In dieser zieht der nunmehr von den finanziellen Kalamitäten des Alltags befreite Rost in die Wiener Innenstadt und nimmt sich ein Zimmer in einem der wohlhabenden Bürgerhäuser. Dort verführt er dann zunächst die gelangweilte Ehefrau und anschließend auch noch die 16-jährige Tochter, was – aus nachvollziehbaren Gründen – zu der einen oder der anderen Missstimmung zwischen Mutter und Tochter führt. Im Nachwort von Lilach Netanel erfährt man schließlich noch, dass die beschriebene Dreiecksbeziehung vermutlich auf einer von Vogel am eigenen Leib erfahrenen Begebenheit beruht.
Das alles ist streckenweise durchaus unterhaltsam. Die vom Verlag Aussicht gestellte literarische Sensation jedoch ist „Eine Wiener Romanze“ sicherlich nicht.
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