Angekommen im Leben
Die 1986 geborene Deborah Feldman wuchs in New York auf. Aber nicht im New York Woody Allens oder Martin Scorseses, und schon gar nicht dem New York aus "Sex and the city". Ihre Stadt war nicht offen und freizügig, nicht die Stadt, nie niemals schläft. Und doch lebte sie mitten in Brooklyn, in Williamsburg, bekannt als Wiege der Hipster. Deborah bekam 2001 nicht einmal sofort mit, was einige Kilometer entfernt von ihr geschah, als zwei Flugzeuge ins World Trade Center flogen. Sie wuchs in der chassidischen Satmar-Gemeinde, einer ultraorthodoxen jüdischen Sekte, auf. Als Scheidungskind lebte sie bei ihren Großeltern in einer Welt, in der Jiddisch Muttersprache war und sie nur die nötigsten Kontakte zur Außenwelt, dem nichtjüdischen Amerika, pflegte.
Hier in dieser Küche habe ich mich stets sicher gefühlt. Warum, kann ich nicht sagen, nur dass ich in der Küche nicht dieses vertraute Gefühl von Verlorenheit in einem fremden Land verspürte, wo niemand wusste, wer ich war oder welche Sprache ich sprach.
Die Satmarer haben ihren Namen von der rumänisch-ungarischen Grenzstadt Satu Mare, auf Jiddisch Satmar. Zu Zeiten des Holocaust rettete der jüdisch-ungarische Rechtsanwalt und Journalist Rudolf Kasztner unter anderem den Rabbiner dieser Stadt, und dieser konnte in die USA emigrieren. Hier gründete er die Gemeinde der Satmarer, die beispielsweise den Holocaust als Strafe Gottes dafür ansahen, dass die europäischen Juden sich zu sehr assimiliert hatten.
Zeidi sagt, der Rebbe möchte, dass wir ehrlecher sind, frommer, als je ein Jude gewesen. Er sagt, wenn wir uns bis aufs Äußerste bemühen, dass Gott stolz auf uns ist, werde er uns niemals mehr so wehtun, wie er es im Krieg getan.
Nun gelte es, die durch die massenhafte Ermordung verlorenen Glaubensgeschwister durch Kinder zu ersetzen, möglichst viele Kinder. Familien mit sechs oder acht Sprösslingen sind bis heute der Normalfall.
Mit siebzehn wurde Deborah verheiratet, brachte einen Sohn zur Welt. Ihr Mann gehörte ebenfalls zur Satmar-Gemeinde. Er wohnte jedoch in Monsey, wo die Satmarer neben anderen ultraorthodoxen Gemeinschaften leben und die Überwachung der Gemeindemitglieder nicht ganz so streng ist wie in Williamsburg. Hier versprach sich die junge Frau zumindest ein kleines Maß an Freiheit. Heimlich schrieb sie sich für Literaturseminare am College ein und entfernte sich innerlich immer weiter vom chassidischen Alltag. So wurde ihr der Gedanke zum Graus, ihren Sohn dreijährig in eine Jeschiwa zum Thora- und Talmud-Studium schicken zu müssen. Der innere Konflikt wurde dadurch noch größer. Das brave, fromme Mädchen wollte frei sein.
Mittlerweile lebt Deborah mit ihrem Sohn in Berlin. Man weiß also, ihre Geschichte hat ein Happy End.
Für jemanden wie mich, einen wurzellosen Wanderer, der nirgends richtig hinpasste, fühlte sich Berlin wie der richtige Ort an. Und wirklich, diese Stadt ist ein Zuhause für diejenigen, die keines haben, ein Ort, an dem sogar diejenigen Wurzeln schlagen, die scheinbar gar keine entwickeln können
schreibt Feldman im Epilog zur deutschsprachigen Ausgabe.
Mit "Unorthodox" hat sie nicht nur ein Buch geschrieben, dass mitreißt in seiner klaren und einfachen Sprache, hervorragend übersetzt von Christian Ruzicska. Das Buch macht auch Mut und gibt Hoffnung, dass ein anderes Leben möglich ist - und das selbst für jemanden, der von Geburt an nichts anderes kennt als das hermetisch abgeriegelte, entbehrungsreiche Leben in einer Gemeinde wie den Satmarern, die stellvertretend für alle fundamentalistischen Gemeinschaften stehen kann. Mit ihrem Ausbruch ist ihr ein Glück zuteil geworden, das den Wenigsten widerfährt. Es ist gut und wichtig, dass sie davon berichtet.
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