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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Die Hölle - das sind wir

Mit "Die hundert Brüder" liegt Donald Antrims vor allem von Schriftstellerkollegen hoch gelobter zweiter Roman erstmals auf Deutsch vor.
Hamburg

Eine Familiengeschichte, und bejubelt von Jonathan Franzen, der im Vorwort Antrims Erzählung ein erzähltechnisches Wunder nennt und als den

seltsamste[n] Roman, der je von einem Amerikaner erschienen ist

bezeichnet (ich plädiere für "Erzählung", auch wenn auf der Cover-Urne schüchtern-blass "Roman" steht). Trotzdem nix für die, die eine prallgefüllte Riesenleinwand lieben, voller Dramatik und Epochenhaftigkeit. Eher was für Zwischen-den-Zeilen-Leser und Aufspürer von verdeckten Verbindungen. Denn prallgefüllt sind auch Die hundert Brüder, nur das Format ist kleiner. Keine Geschichte über mehrere Generationen oder Jahre oder auch nur Tage. Ein Abend wird erzählt. Keine Nebenplots, keine Sprünge in der Zeit, nur ab und zu ein Rückblick in die Kindheit einiger dem Buch seinen Namen gebenden Brüder und deren sadistische Umgangsformen. Ein kunstvoller Kurzfilm könnte das werden. Alles in einer langen Einstellung. Eine Idee baut auf der vorigen auf, man kann dem Autor förmlich auf die Finger schauen, wie er das entwickelt, was sich da vor uns aufbaut. Wie Dominosteine, einer trifft auf den nächsten - so fühlt es sich beim Lesen anfangs an, wenn sich der Ich-Erzähler von einem Bruder zum nächsten bewegt. Doch die Abläufe sind verzwickter, eher wie bei einer Rube-Goldberg-Maschine (man kennt diese komplizierten sinnlos-schönen Gebilde oder Mechaniken vor allem aus Cartoons, wenn z.B. der Kojote den Roadrunner fangen will). Die Freude an der Erfindung kann dabei faszinieren, aber auch ermüden.

 

Die Asche des Vaters

Hundert Brüder also, die sich eines Abends treffen, um endlich zu beschließen, wie mit der Asche ihres Vaters verfahren werden sollte – wenn die Urne nur endlich wieder auftauchen würde. Darum geht es scheinbar. Doch erstens sind bloß neunundneunzig Brüder gekommen (George konnte nicht – eine Art running gag im Verlauf des Buches und eins seiner vielen Rätsel); zweitens geht es um alles andere, nur um die Überreste des Vaters nicht (des "old fucker" übrigens, wie er im Original treffenderweise genannt wird), wegen denen doch alle vorgeblich hier sind, bevor sie erst in der Mitte des Buches ein zweites Mal erwähnt werden; und drittens scheint es um noch viel mehr zu gehen, das der Leser unter Anspielungen versteckt glaubt und unter den Zeilen hervorzufegen versucht.

Wie bei den Zusammenkünften üblich, haben sich die Brüder in die rote Bibliothek ihres Vaters gezwängt und verhalten sich, wie man es von anderen Brüdern in anderen Büchern oder im richtigen Leben in dieser Situation auch vermuten würde - sie unterhalten sich, stehen in Grüppchen zusammen (hier die Väter, dort die Zwillingspärchen, da die Alten usw.), betrinken sich, spielen einander Streiche, haben Angst vor einander, belehren, trösten, bepöbeln einander und tun einander weh. Ein paar begehren einander auch. Frauen sind übrigens keine anwesend. Es scheint auch weder Schwestern noch eine Mutter zu geben. Einige Männer sind verheiratet, und Frauen tauchen auf pornographischen Zeichnungen auf. Aber mit Namen genannt wird nur eine, Jane, mit der George (der, der nicht da ist) durchgebrannt ist.

 

Neunundneunzig Neurosen

Unter neunundneunzig Brüdern ist Platz für jede menschliche Schwäche und Regung, für jede Neurose. Alles ist ein bisschen überzeichnet, überdreht wie bei Woody Allen. Was nur konsequent ist bei der Ausgangssituation der Erzählung. Hat man die erst akzeptiert, wundert man sich wenig über das, was folgt. Etwa: Klar, dass nicht alle Brüder besorgt sind, wenn sich einer mal am Boden krümmt vor Schmerzen. So etwas passiert bei jedem Treffen (neugierig sind die meisten trotzdem und stellen sich um den Gestürzten auf - auf das groteske Bild verzichtet Antrim ungern). Und dass sich ein bunter Blumenstrauß an psychischen Auffälligkeiten und Störungen sowie anderen Krankheiten entfalten kann, leuchtet ebenfalls ein – von Angststörungen über Narzissmus bis Größenwahn. Depressiv sind sie eh alle. Dazu kommt das Flair von Ungeduld über allem im Gewölbe der Bibliothek, die für den Erzähler einem Wartezimmer gleicht: Die Lampen flackern, die Schatten schwanken, draußen der Wind. Der Verfall dieses Hortes des Geistes, der mit jedem Familientreffen beschleunigt wird.

 

Die Interpretationsmaschine

Wer führt uns eigentlich durch diese bürgerliche Hölle? Einer der Brüder, Doug sein Name. Seine ersten zwei Buchstaben teilt er mit dem Autor, dessen Initialen wiederum die gleichen sind wie die von Dante Alighieri, der bekanntlich mit Vergil in dreiunddreißig Gesängen neun Höllenkreise durchschritt. Und so wie Dante in seiner Commedia und Antrim mitte der Neunziger, als er Die hundert Brüder schrieb, ist auch Doug in der Mitte seines Lebens (noch kann er in der Bibliothek bis zum vierten Regalbrett hoch pissen, das freut ihn, auch wenn's früher noch höher ging). Und zu Beginn ist Doug mit seinem Bruder Virgil unterwegs. Das und die Zahlensymbolik, das

vielfach gegliederte Deckengewölbe

... Man kommt bei der Lektüre oft in die Verlegenheit, die Interpretationsmaschine anzuwerfen. Da sind sicher einige Anspielungen, die dem Rezensenten durch die Maschen gegangen sind. Details über Details, die auf eine zweite Bedeutungsebene hinweisen sollen, oder könnten, oder das vielleicht auch nicht tun ... (Deuten die Jesus-Anspielungen darauf hin, dass es sich um eine Erlösungsgeschichte handelt? Stehen die bedrohlich wirkenden Menschen vorm Haus für eine größere, abstrakte Bedrohung? Und ist das Ende nicht ganz klar eine Kafka-Hommage?) Manchmal scheinen die Anspielungen beliebig.

Die hundert Brüder werden in ihren besten Momenten deadpan erzählt, mit Pokerface im Erzählgestus, ohne Zwinkern, das uns verrät, wie etwas gemeint ist. Diese unaufgeregte Erzählweise macht gute Phantastik aus. Die Art von Humor befindet sich auf einer Traditionslinie mit Buster Keaton und Jaques Tati. Antrims Sprache ist unprätentiös wie Tatis ruhige Kameraführung oder Keatons steinernes Gesicht. Das schafft Raum für Groteskes und Slapstick, für Komik, die einen nie anbrüllt, für Bilder, die ihren Witz aus der genauen Beschreibung ziehen. Manchmal fällt der Groschen erst spät, dann lacht man um so mehr, weil man ihn sich verdient hat. Hin und wieder aber fällt er nicht, und man wundert sich über lange Schachtelsätze oder Sätze mit zig Relativsätzen, voller unnötiger Details. Wohlwollend könnte man das entschuldigen mit Dougs Eigenschaft, sich auch Einfällen, die ihm unerklärlich sind, nicht entziehen zu können:

Wer weiß schon, welches Bruchstück eines Dialogs, welche achtlose Geste ... was genau sich ... doch noch als bedeutungsvoll herausstellen wird?

Den wunderbaren allerersten Satz des Buches möchte ich davon ausnehmen; er geht über die ersten drei Seiten und führt virtuos alle einhundert Brüder ein, alle mit Namen, einige mit Berufen ("Maxwell, der Tropenbotaniker"), andere mit ihren hervorstechenden Eigenschaften ("Zachary, der Riese"; "Virgil, der zwanghafte Flüsterer"), Hobbys ("Porter, der Tagebuchschreiber") oder mit Krankheiten ("der schizophrene Irv") usw.

 

Die Kunst, einen Schuh zu lieben

Antrim hat viele starke Bilder. Daher die Vergleiche zu den Filmemachern weiter oben. Einige Stellen des Buches aber wären in einem Film schwer umsetzbar. Meist sind das Analysen, die Doug über seine Brüder und deren Verhaltensweisen anstellt, durch die wir allerdings mindestens genauso viel über Doug wie über seine Brüder erfahren und zunehmend an seiner Zuverlässigkeit als Erzähler zweifeln. Dabei schlägt er oft einen Ton an wie allwissende Erzähler aus Romanen des 19. Jahrhunderts, denen wir zutrauen, uns die Welt erklären zu können. Doug trauen wir es irgendwann nicht mehr zu, seine notorische Besserwisserei macht ihn zunehmend unsympathischer. Während er selber stiehlt und trinkt, verurteilt er andere dafür, seine eigenen Fehltritte relativiert er.

Ein Zeitlupeneffekt stellt sich in den Momenten ein, in denen Doug alleine ist und noch mehr ins Detail geht bei seinen Beobachtungen. Wie in der vielleicht schönsten Szene, die sich über mehrere Seiten erstreckt, als er, am Boden liegend, seinem ältesten und am meisten gefürchteten Bruder Hiram zu Füßen, dessen Schuhe betrachtet, dabei eine Art Seligkeit empfindet und ganz zärtliche Gefühle für diese Schuhe entwickelt. Der liebevollste Moment des gesamten Buches. Erst am Boden, im Dreck, in einem Gegenstand, kann man in dieser Familie so etwas wie Geborgenheit finden.

Die eigentliche Berufung Dougs ist die Genealogie. Warum erzählt er uns die Geschichte seiner Brüder und seiner selbst? Es gibt unter seinen Brüdern immerhin einen Tagebuchschreiber und einen Dokumentarfilmer, der an diesem Abend alles festhält, der seine Kamera immer und überall dabei hat und bereits alle wichtigen Kindheitsmomente seiner Brüder filmte. Aber er ist für alle, auch für Doug, eher eine Lachnummer als einer, den man respektiert. Doug scheint weniger daran interessiert zu sein, die Geschichten und Persönlichkeiten seiner Brüder zu erzählen und darzustellen, als sich selber und seiner Rolle in dieser Brüdergemeinschaft zu erkunden. Für ihn ist die Genealogie

die ureigenste Geschichte des Ich.

Nicht verwunderlich, dass ihn vor allem diejenigen seiner Vorfahren interessieren, die auch Doug hießen, deren Seelen, wie er glaubt, in ihm weiterleben. J. Franzen übrigens sieht Doug ganz anders in seinem Vorwort, das ich als Nachwort zu lesen empfehle, weil es, neben klugen Gedanken zur Erzähltechnik und halbgaren Detailinterpretationen, zu viel über das Ende verrät, das man doch erst einmal ohne Vorwissen auf sich wirken lassen sollte.

 

Wie man jongliert

Nach einem bereits chaotischen Dinner strudelt die Erzählung ihrem bereits angedeuteten düsteren und verrückten Ende entgegen. In einem furiosen Finale, mit archaischer Härte und konsequent zunehmendem Irrwitz zeigt sich das Geschick Donald Antrims, der dem Leser zwar nicht alle Handlungsfäden fein säuberlich vor dessen Nase zusammenknüpft, sich dafür aber - um ein anderes Bild zu gebrauchen - als versierter Jongleur erweist, der alle Bälle in der Luft zu halten versteht (neben den vielen Brüdern sind das die vielen Details und Motive, die man hier nicht alle genauer betrachten kann: die Anspielungen auf Jesus, die unheimlichen Menschen vor dem Haus, Betrachtungen über die Zeit usw.), immer schneller, in immer wahnwitzigeren Konstellationen – bis sie alle auf einmal auf ihn herabstürzen.

Donald Antrim
Die hundert Brüder
Übersetzung:
Gottfried Röckelein
Vorwort: Jonathan Franzen
Rowohlt
2016 · 224 Seiten · 12,99 Euro
ISBN:
978-3499270772

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