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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Donald Berger ‒ Ein Dichter für DichterInnen ist zu entdecken

Hamburg

Manchmal greift man als Leser oder Rezensent einfach wegen des Covers zu einem Buch, vor allem wenn man zuvor noch nie etwas vom Autor gehört hat. Tatsächlich liegt die einzige vorangegangene Publikation des 1956 in New York geborenen Donald Bergers 22 Jahre zurück; Quality Hill wurde 1993 in einem kleinen amerikanischen Verlag veröffentlicht. Und nun dieses Cover des Berliner Malers Christian Rothmann mit den leuchtenden pastosen Farbkreisen auf weißem Grund, darauf in schwarzen Lettern „The Long Time ∣ Die währende Zeit“. Der Umschlag war nicht nur eine Augenweide, sondern auch ein Versprechen, das die Gedichte den ganzen Sommer über immer wieder aufs Neue einlösten. Eine vorausgegangene Publikation des Bandes auf Englisch hat es, abgesehen von Abdrucken einzelner Gedichte in amerikanischen Zeitschriften, nicht gegeben. Die englisch-deutsche Ausgabe im verdienstvollen Wallstein-Verlag ist also eine Originalausgabe und neben der Qualität der Texte wohl dem Umstand zu verdanken, dass der vielgereiste Autor auch mehrere Jahre in Berlin und Tübingen verbracht hat, wo er, wie seinem Gedicht Ich vergesse zu entnehmen ist, Umgang mit Autorinnen wie Ulrike Draesner und Monika Rinck hatte. Letztere dürfte ihn nachhaltig unterstützt haben und zeichnet auch für das einzige nicht vom Osnabrücker Germanisten Christoph König übersetzte Gedicht im Band, Ex-Poet, verantwortlich.

Sieht man sich auf der Homepage des in Berlin lebenden Malers www.rothmann.info um, wo Blumenbilder neben abstrakten Bildern stehen, lassen sich die bunten Ellipsen, Kringeln und Kreise als formale Weiterentwicklungen von Blüten begreifen oder umgekehrt. Und mit diesem Schritt des Malers aus der Konkretheit zu einer geistigen Form und vom Geistigen wieder zurück ins Konkrete, in der das Gegenständliche transformiert und in neue Form-Zusammenhänge gebracht wird, gewinnen wir auch ein Bild für die poetische Grundfigur von Bergers Schreiben. Tatsächlich nimmt eines der Gedichte des Bandes auch direkten Bezug auf das Bild:

Zuerst dachte ich, das Gemälde von Christian Rothman, das ich sehr
            mochte, heiße >Der komische Junggeselle< und nicht >Die lustige
            W
itwe<, aber er sagte selbst, es könne beides bedeuten.

Das Gedicht versammelt unter dem Titel „Ich vergesse“ eine Liste flüchtiger Impressionen, Gedanken, Momente, womit selbstverständlich genau das Gegenteil dessen bewirkt wird, was der Titel behauptet. Hier lassen sich drei Momente benennen, die in Bergers Texten wiederkehren. Das Einsammeln von Beobachtungen aus dem täglichen Leben, ihre gedankliche Reperspektivierung und die damit einhergehende Aufhebung ihrer Flüchtigkeit in der Dauer, worauf auch der Titel des Bandes Bezug nimmt.

Bergers Gedichte sind Exerzitien (verspielte, nicht strenge) der poetischen Imagination, die alltägliche Situationen verwandeln, sie aufsprengen am feinsten Haarriss, der sich der tastenden Vorstellungskraft bietet. Exemplarisch dafür der Beginn des zweiten Gedicht des Bandes mit dem Titel Die Wand: „An der Wand hängen Bilder./ Warum?“ 6 Worte genügen dem Autor um Millionen eingerichtete Zimmer auf der ganzen Welt mit einem Schlag in Frage zu stellen. In den folgenden Zeilen verzeichnet der Dichter, was sich um und auf dem Schreibtisch vorfindet und spannt mit seinem Erstaunen über das Selbstverständliche eine Feder, mit deren Hilfe er das reflektierende Ich in andere Zusammenhänge katapultiert:

In einem großen Sinn
ist das alles, das verzeichnet werden muss,
aber in einem anderen, verwirrteren und modernerem Sinn
ist es jeder Gedanke,
der gefallen ist, wie als Versprechen,
irgendwohin gebracht zu werden,
wovon du nur Bilder gesehen hast.

Berger ist ein Erbe der Beat-Generation insofern er sich an der Alltagssprache orientiert. Was ihn aber von ihr sehr wohl unterscheidet, ist eine hintersinnige Reflexivität, die das Wohlbekannte in ungeahnte Zusammenhänge zieht. Und gerade wie Berger durch den vordergründlichen Schein gedanklich hindurchsticht und poetische Reflexionsräume öffnet, macht ihn, nicht nur, aber auch, zu einem Dichter für DichterInnen.

Man könnte das poetische Verfahren mit dem Berger in diesem Zusammenhang arbeitet, mit einem Begriff aus der systemischen Therapie als Reframing bezeichnen. Bei dieser Psychotechnik geht es darum, die übliche Sicht auf immer gleich interpretierte Szenen dadurch aufzubrechen, dass man sie in einem anderen Blickwinkel erscheinen lässt. Und das mit dem Effekt, dass sich neue Vorstellungen, aber auch Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten für das Ich ergeben. Ähnliches scheint sich auch in der ersten Strophe des Gedichts mit dem für Berger typisch unprätentiösen, gleichzeitig augenzwinkernden Titel „Spontanes Gedicht, etwas überarbeitungsbedürftig“ zu vollziehen:

Ich sehe dich an ohne irgendwelche Augen
Da wir schon wissen, wofür dein Körper stand
Verborgen im Nebel dort drüben, und sich weigerte zu wachsen

Das jedem zugängliche „ich sehe“ wird sofort neu geframt, indem es „ohne irgendwelche Augen“ ausgeführt wird. Es liegt nahe zu vermuten, dass die andere Person, sofern der Satz Sinn machen soll, dem sprechenden Ich vor dem geistigen Auge steht. Dort steht aber nun nicht der Körper in seiner spontanen Gegenwart, sondern ein Wissen darüber, wofür dieser Körper stand. Verwandelt sich die Perspektive in der ersten Zeile von einer konkreten in eine geistige, so wird in der zweiten die Gegenwart durch die Vergangenheit neu gefasst. Nun wird aber die anfängliche „augenlose“ geistige Sicht in der dritten Zeile wieder konkret geframt, denn der „Körper“ des anderen, von dem die Rede ist, scheint „im Nebel dort drüber“ verborgen zu sein. Mit der Feststellung, dass er sich dazu noch „weigerte zu wachsen“ wird ihm auch eine Absicht unterstellt, die die Situation endgültig aus den gewohnten Bahnen kippt. Das Betrachten einer im Nebel verborgenen Person hat sich mit wenigen Sätzen um mehrere Dimensionen erweitert. Bedeutsam ist hier die Verwendung des Präteritums. Das Ich reflektiert nicht nur die aktuelle Person, sondern auch die Erfahrungen, die es mit dieser Person gemacht hat und sich an ihre Stelle drängen. Bergers Gedicht machen auf anspruchsvolle Weise reflexive Bewegungen durchsichtig und erlauben sowohl dem sprechenden Ich als auch den LeserInnen die Dinge neu zusehen und davon überrascht zu werden. In der abschließenden vierten Strophe wird das besonders deutlich, die eine letzte, fast als kosmisch zu bezeichnende Reperspektivierung vornimmt:

Ich sehe dich an von weit hinter der Erde
Sogar mit den Augen könnte ich nicht sagen
Wie wir in mir zusammen gekommen sind

Eine Brechung überkommener Sichtweisen erreicht der Autor auch dadurch, dass er auf außerliterarische Formen wie etwa den Film rekurriert. So stellt Berger unter dem E-Mail-Titel „Re: Hallo“ kontrapunktisch gegenüber, wie sich das sprechende Ich im Leben und im Film darstellt und anfühlt, und in „Superman“ läuft die stark am Mündlichen orientierte Nacherzählung des ersten Superman-Films von 1978 unerwartet auf das Problem der allgemeinen menschlichen Schwäche zu. Einen ähnlichen entfremdenden Effekt hat die Liste der Handlungsanweisungen für Familienprobleme, aus denen das Gedicht „Für den, der fragt“ besteht. Die Beispiele zeigen auch, dass Bergers Texte auch über Humor verfügen und den Leser schmunzeln lassen.

Die Gedichte sind trotz der zugänglichen Sprache nicht immer eine leichte Lektüre, manche erschließen sich erst langsam, ein paar sind mir auch auf längere Zeit verschlossen geblieben oder konnten mich einfach nicht soweit interessieren, dass ich mir eine wiederholte intensive Lektüre antun wollte. Die Übersetzung muss keine einfache Aufgabe für Christoph König gewesen sein, der ganz gut Bergers Ton trifft und auch ein sehr instruktives Nachwort geschrieben hat. Letzteres wohl auch ein Hinweis darauf, dass bei Bergers komplexen Texte ein paar orientierende Worte hilfreich sein können. Ein Beispiel für die Übersetzungsschwierigkeiten bietet das einleitende Gedicht, das auch den Titel des Buches liefert. Ich zitiere hier die ersten beiden Strophen auf Englisch und Deutsch:

The Long Time                                                          Die währende Zeit

It was a long                                                               Es war eine lange
time. What day                                                         Zeit. An welchem
was it? I                                                                        Tag? Ich
didn’t know.                                                               wusste es nicht.

O little while                                                              O kleine Weile,
while you last,                                                           während du andauerst,
as somebody                                                             wie einer
who doesn’t know meets                                    der nicht Bescheid weiß,
                                                                                                                   einen trifft,
somebody who does,                                           der es weiß,

Um die unterschiedlichen Bedeutungsebenen von „long“ herauszuschälen, hat der Übersetzer dasselbe Wort einmal mit „während“ und einmal mit „lang“ übersetzt. Vor allem im Hinblick auf den Titel des Bandes, der wesentlich auf die dauerstiftende Funktion der Poesie bei Berger Bezug nimmt, war das wohl eine gerechtfertigte Entscheidung. Allerdings steht im Gedicht in der nächsten Strophe gleich wieder zweimal ein Wort mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen, nämlich das Homonym „while“, das der Übersetzer korrekt als „Weile“ und „während“ wiedergibt. Was auf der Strecke bleibt, ist das Wortspiel, und damit auch das poetische Verfahren des Autors. König hat sich an dieser und an anderen Stellen dafür entschieden, eher dem Wortsinn als der Form zu folgen, eine Entscheidung, die sich zumal durch die Gegenwart des englischen Originals rechtfertigen lässt. Eine dichterischere Übersetzung hätte versucht, das Wortspiel zu erhalten, wenn auch nicht genau an derselben Stelle. Umberto Eco hat einmal von der Übersetzung als Gewinn- und Verlustrechnung gesprochen, das heißt, dass man das, was man an der einen Stelle verliert, an der anderen wieder hereinholen kann. Und so böte es sich an entweder etwas schräg „O kleine Weile/ während du verweilst“ zu formulieren oder runder: „O kleine Weile/ während du währst“.

„The Long Time ∣ Die währende Zeit“ ist, wie es für Donald Bergers hintersinnige Gedichte angemessen ist, ein bedeutungsreicher Titel und benennt ein zentrales Charakteristikum seiner poetischen Arbeit, die flüchtige Beobachtungen und Momente in den Raum der Reflexion überführt und somit dem schreibenden oder lesenden Subjekt ein Gefühl von Dauer vermitteln. Bergers Gedichte sind inspirierend und eine enorme Bereicherung für die literarische Landschaft. Eine „lange Zeit“ ist es aber auch her, seit Berger seinen ersten Gedichtband veröffentlicht hat. Und angesichts von 46 Gedichten aus 22 Jahren, stellt sich die Frage, ob ein sich ständig beschleunigender Literaturbetrieb, der im Jahresrhythmus die Bücher der AutorInnen auf den Markt wirft, günstig für Texte ist, die über ein saisonales Interesse hinaus von Dauer sein werden. Donald Bergers Beispiel lässt eher das Gegenteil vermuten, obwohl nicht unbedingt wieder zwei Jahrzehnte vergehen müssten, bis wir wieder einen neuen Band Bergers in der Hand halten können.

 

Donald Berger
The Long Time | Die währende Zeit
Poems | Gedichte. English | Deutsch
Aus dem Englischen von Christoph König
Wallstein
2015 · 172 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-8353-1600-3

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