Poetische Grüße aus zwei Jahrhunderten
Unter dem Titel „Als Gruß zu lesen. Russische Lyrik von 2000 bis 1800“ hat Felix Philipp Ingold, Prosaautor, Lyriker, Literaturwissenschaftler, Publizist und exzellenter Kenner der russischen Kultur, eine neue Anthologie russischer Dichtung zusammengestellt. Erschienen ist sie im Dörlemann Verlag, dem wir in letzter Zeit ein paar schöne Projekte verdanken, darunter Neuauflagen des Werks von Iwan Bunin und Patrick Leigh Fermor.
Ingold versammelt insgesamt gut 140 Gedichte aus 200 Jahren, wobei er neben den russischen Originaltext jeweils eine eigene Übersetzung stellt – bisweilen handelt es sich dabei um eine Erstübertragung des betreffenden Gedichts ins Deutsche. Wie im Untertitel schon angedeutet wird, sind die Gedichte in chronologischer Hinsicht rückwärts angeordnet – die jüngsten Texte finden sich am Anfang. In einem detaillierten Vorwort erläutert Ingold die Grundsätze, nach denen er die Gedichte ausgewählt hat; außerdem gibt er ein paar allgemeine Hinweise etwa zum Formeninventar oder zu den Blüteperioden der russischen Lyrik. Auf den Gedichtteil selbst folgt ein ausgedehnter und kundiger Kommentarteil, der mehr als 180 Seiten umfasst: Darin referiert der Herausgeber die wichtigsten biographischen Informationen über die Dichter. Gleichzeitig versucht er eine Einordnung ihres Werks und gibt Anregungen für eine Interpretation der in der Anthologie präsentierten Gedichte. An Stelle eines Nachworts beschließt den Band ein kurzer Text des berühmten Philologen Roman Jakobson unter dem Titel „Anmerkungen zu den Wegen der russischen Poesie“, der allerdings schon etwas älter ist (1965).
Obwohl die Anzahl der auf Deutsch lieferbaren Anthologien russischer Lyrik überschaubar ist, sieht sich doch auch Ingold veranlasst, sein Vorhaben zu positionieren und die von ihm angewendeten Auswahlkriterien offen zu legen. In einem ersten Schritt tut er dies gewissermaßen ex negativo, indem er sich von den bisherigen, „traditionellen“ Anthologien abgrenzt und zunächst offen eingesteht, er habe die meisten klassischen Prinzipien außer Acht gelassen. Als Grundprämisse dient Ingold der Entscheid, jeden Autor mit nur einem Gedicht in seine Auswahl aufzunehmen. Keine Regel ohne Ausnahme: Ingold weicht in wenigen Fällen von dieser sich selbst auferlegten Vorgabe ab – nämlich dort, wo er einen Lyriker ein zweites Mal zu Wort kommen lässt, wenn dieser auch als Verfasser einer höchst gelungenen russischen Übersetzung eines fremdsprachigen Gedichts hervorgetreten ist. Der Herausgeber argumentiert weiter, seine Sammlung könne repräsentativ sein, auch wenn sie nicht einfach die jeweiligen Meisterwerke eines Autors oder eines Jahrzehnts aufnehme. Mit dem gewählten Grundsatz strebt Ingold nach einer anderen Art von Repräsentativität, die nämlich den „Formbestand“ der russischen Lyrik, ihre „thematische Horizontbreite, die intertextuelle Vernetzung und auch ihre historische Evolution“ im Auge behält.
Zugleich dürfte Ingold aber auch von einem – durchaus legitimen – subjektiven Interesse geleitet worden sein: So mag er einen Lyriker mit einem Gedicht berücksichtigt haben, weil dieser nach Ingolds Meinung zu unrecht verkannt ist; oder das eine oder andere russische Gedicht hat vielleicht den Übersetzer Ingold ganz besonders herausgefordert. Was in der Einleitung allerdings etwas verschleiert wird: Das zeitlich früheste Gedicht ist dann doch nicht um 1800 datiert, sondern stammt aus dem Jahr 1813. Überdies ist das 20. Jh. in der Anthologie deutlich übervertreten, während nur etwa ein Fünftel der abgedruckten Texte zwischen 1800 und 1900 entstanden ist.
Sehr zu begrüßen ist freilich, dass Ingold durch den Verzicht auf manches Meisterwerk Platz gewinnt für verschiedene Entdeckungen. So vermag etwa Konstantin Fofanows (1862-1911) „Elegie“ aus dem Jahr 1909 durch ihre frische Sprache und die Vermischung von leiser Ironie und Ernsthaftigkeit zu überzeugen:
Элегия
Папироса… Ещё и ещё папироса…
Я курю и в окошко смотрю.Над водоювсё ласточки кружатся косо.
Покурил. Закурил. И курю.Мысли – злы. Для мучений больного вопроса
Нет ответа иль бледен ответ.Папироса. Ещё и ещё папироса…
А забвения думам мучительным – нет.Пепел стол весь усыпал… С тупого откоса
В пруд сбегают утята толпой.
Папироса. Еще и еще папироса…
Как всё глупо, старо, Боже мой!
Und Ingolds Übertragung:
Elegie
Zigarette folgt auf Zigarette ...
Bin am Rauchen und schaue hinaus.
Seh die Schwalben in Kreisen, in Ketten.
Ja, ich rauche tagein und tagaus.Lauter üble Gedanken. Ich wette,
Keine Antwort ist dafür genug.
Also weitergeraucht, los, Zigarette!..
Die Gedankenlast wächst Zug um Zug.Und der Aschenberg auch!.. Sich zu retten
Flattern Enten – ein Schwarm – in den Teich.
Noch ein Zug! Immer gut! Zigarette!..
Alles blöd. Viel zu spät. Alles gleich!..
Positiv zu vermerken ist auch der Umstand, dass in Ingolds Sammlung die Frauen stärker als in anderen Anthologien in ihr Recht gesetzt werden. Neben den großen Namen wie Anna Achmatowa, Marina Zwetajewa oder auch Bella Achmadulina, die wohl in jeder Anthologie einen Auftritt erhalten, unterschlägt Ingold auch solche bemerkenswerten Dichterinnen wie Sofija Parnok, Karolina Pawlowa oder Marija Petrowych nicht, die im deutschsprachigen Raum allenfalls Kennern ein Begriff sein dürften. Ärgerlich ist allerdings, dass Ingold in seinen Erläuterungen zu den Dichterinnen hin und wieder den bestimmten Artikel verwendet und dann etwa von „der Pawlowa“ die Rede ist. Man kann gegenüber sprachlicher Gleichbehandlung durchaus kritisch eingestellt sein – aber derartige Formen, die etwas Bevormundendes an sich haben, möchte man doch lieber der Vergangenheit überantwortet sehen. Lobend erwähnt werden darf hingegen wiederum, dass Ingold auch die homosexuellen Traditionen in der russischen Lyrik nicht unter den Tisch kehrt und entsprechende Gedichtbeispiele etwa von Walerij Pereleschin (1913-1992) oder Poliksena Solowjowa (1867-1924) in seine Anthologie aufnimmt. Hier trägt Ingold tatsächlich zu einer Erweiterung des Horizonts bei. Auch Gedichte, die bewusst mit graphischen Elementen operieren, hat Ingold in seinem Band berücksichtigt.
An Ingolds Übertragungen ins Deutsche kann man die Mannigfaltigkeit der Lösungen bestaunen, die große Phantasie, die der Lyriker Ingold an den Tag legt, wenn es gilt, im Deutschen eine passende Formulierung zu finden. Dabei hat Ingold bewundernswerte sprachliche Einfälle. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Semjon Kirsanow verwendet in seinem Gedicht „Rabota v sadu“ (Gartenarbeit) in der Schlusszeile den Ausdruck „sčastlivovoe derevo“, wobei das erste Wort ein Neologismus ist: Es ist dies eine Kontraktion zweier Adjektive, „sčastlivoe“ (glücklich) bzw. „slivovoe“ (Pflaumen-; wie etwa in „slivovoe derevo“, Pflaumenbaum). Wie aber gibt man diese Wendung im Deutschen adäquat wieder? – Ingold hat sich dafür das wunderbare Wort „Triumpflaumenbaum“ ausgedacht. In seinen Kommentaren zu manchem Gedicht wird überdies deutlich, wie intensiv Ingold seine Arbeit als Übersetzer reflektiert und dabei den Leser an seinen Überlegungen teilhaben lässt, worin er seine jeweiligen Entscheidungen diskutiert und verteidigt.
Mehrere Dutzend Druckfehler in den russischen Originalgedichten schmälern leider das Lesevergnügen. Meist haben sich falsche kyrillische Buchstaben eingeschlichen (etwa S. 80, erste Zeile; S. 204, mehrere Zeilen; S. 202 in der Widmung, usw.), hie und da fehlen einzelne Buchstaben, und manchmal finden sich unvermittelt lateinische Buchstaben (S. 68, siebte Zeile) zwischen den russischen Lettern. Letzteres ist umso fataler auf dem Hintergrund dessen, dass Ingold auch ein experimentelles Gedicht von Boshidar (eigentlich Bogdan Gordejew) in seine Sammlung aufgenommen hat, worin der Autor ganz bewusst kyrillische und lateinische Buchstaben mischt.
Man kann in dieser Anthologie manches interessante russische Gedicht entdecken, man kann Felix Philipp Ingolds deutsche Übertragungen bewundern und aus seinen Kommentaren und Ausführungen viel lernen. Die Sammlung ist eine schöne Ergänzung zu den bisherigen Anthologien und wird wohl vor allem solche Leser ansprechen, die mit russischer Lyrik bereits gut vertraut sind oder aber sich speziell für Fragen des Übersetzens interessieren. Will man jedoch Studierenden der Literatur eine Empfehlung abgeben, um ihnen den Einstieg in die russische Lyrik zu ermöglichen, so wird man wohl doch auf Kay Borowsky/Ludolf Müller („Russische Lyrik: Von den Anfängen bis zur Gegenwart“, Reclam) oder allenfalls auf den etwas älteren Band von Efim Etkind („Russische Lyrik aus drei Jahrhunderten“, Piper) zurückgreifen. Das hat freilich mit den Voraussetzungen zu tun: Studierenden müssen in vorzugsweise diejenigen Texte vermittelt werden, die gerade dadurch exemplarisch und repräsentativ sind, dass sie in der Tat ihre Wirkung in möglichst breiten Kreisen entfaltet haben: Es sind dann eben doch solche „Meisterwerke“, die bis heute in verschiedenen Kontexten und Situationen zugleich lebendig sind, in den Schulen, in den Medien, und nicht zuletzt auch in den Köpfen der Menschen selbst.
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