Heimlich rauchen und kiffen und die Sehnsucht nach dem ersten Kuss.
Das ist wirklich ein blöder Montag: "Als ich heute zur Tür reinkam, konnte ich gar nicht glauben, wie dumm ich bin. Oder alles ist." Denn die Projektwoche in der Schule mit dem Titel "Ich schreibe einen Blog" will Lanz nur mitmachen, weil er gehört hat, dass auch Lynn dabei sein wird. Und in die ist er verliebt. Traut sich aber nicht, sie anzusprechen. Denn "Lynn könnte halt locker Miss Schweiz werden. Und bei mir ist es halt so, dass ich zwar ab und zu mit einer schreibe, sie mir aber nur zurückschreibt, wenn sie hässlich ist". Und dann ist nicht nur sein verhasster Klassenlehrer Gilgen der Leiter des Projekts, sondern Lynn ist auch gar nicht da, "nur Lars aus der Neunten, Dani aus der Siebten und der Ork und ein Zwillingsmädchen aus der Parallelklasse."
Aber jetzt ist er schon mal da, dann macht er eben auch mit. Ein Thema sollen sie sich überlegen, sagt Gilgen: "Ohne Thema funktioniert das nicht. Da schwimmt ihr herum wie eine besoffene Ente auf dem Meer." Schreiben sollen sie, so viel wie möglich schreiben. Es muss aber auch keiner etwas hochladen, wenn er nicht will. Und so schreibt Lanz als erstes die Überschrift seines Blogs: "Ich wollte Lynn und keinen scheiss Blog."
Aber dann packt es Lanz. Und er schreibt und schreibt. Natürlich will er das, was er schreibt, nicht in der Klasse vorlesen, natürlich will er es auch nicht seinem Klassenlehrer zeigen. Denn er schreibt ganz offen über seine Gefühle. Schreibt über die Müllers, bei denen er manchmal mittags isst und das Tischgebet mitsprechen muss. "Zum Glück haben wir aber die Abmachung, dass sie mit mir nicht über Jesus reden, ich dafür jedes Mal mitbete." Er schreibt über seine Mam, die manchmal, wenn er spätnachmittags heimkommt, mit ihrem Freund Mani im Bett liegt. Dann schleicht er sich in sein Zimmer, damit sie ihn nicht hört und rauskommt und ausfragt: "Weil es ja fast nichts Peinlicheres gibt. Weil sie ja genau weiss, dass ich weiss, was sie gerade hinter sich hat und sie dann so anders ist, anders spricht und mich anders anschaut als normal." Schreibt über seinen Vater, den er Babs nennt, der vor sieben Jahren ausgezogen ist, bei dem er auch manchmal übernachtet. Über die ersten Ferien mit ihm, die sein Vater wegen der Trennung von seiner Frau weinend abbrechen musste. Schreibt, dass er heimlich raucht und sogar kifft und noch nie Sex gehabt hat, was er natürlich seinen Kumpels gegenüber nicht zugeben kann, nur hier heimlich schreiben. Und wie er dann doch noch Kontakt mit Lynn aufnimmt, denn am zweiten Tag sitzt sie plötzlich neben ihm in der Klasse: "Sag einfach hallo, dachte ich. Hallo, ich bin Lanz, oder so. Sag Lanz. Bei Länz hat sie das Gefühl, du seist in der Sechsten. Und bei Lanzelot fragt sie dich, ob du in einer Burg wohnst. Und so ging das weiter, bis es läutete." Nicht einfach für ihn: "Ich sagte dann so im Satz 'Hey' zurück, dann schrieb ich weiter. Und das ist dann schon sehr behindert. Ich meine, ich will ja unbedingt mit ihr reden, tue dann aber so, als würde sie mich einen Scheiss interessieren." Aber sie added ihn sofort auf Facebook - da hatte er sie nämlich nicht gefunden. Aber auf die Party, zu der er sie einladen will, geht sie nicht, sie fliegt in den Ferien in die USA, zu ihrem Vater, in ein paar Tagen.
Der Schweizer Autor Flurin Jecker brilliert in seinem Debütroman, der seine Abschlussarbeit für das Studium des Literarischen Schreibens am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel ist, durch die Erzählperspektive und den Sprachstil: Ganz aus der Sicht eines Jugendlichen ist der Roman geschrieben, als Blog des jungen Lanz. Ungefiltert lesen wir hier ein Tagebuch, kunstlos hintereinander weggeschrieben. Was ja für einen Autoren grade die Kunst ist. Zwischen rotzig und sentimental, gibt sich Lanz preis, öffnet sich. Reflektiert seine Situation mit den Eltern, beschimpft sich, weil er sich nicht traut, Lynn richtig anzusprechen und stattdessen nur Blödheiten von sich gibt. Ist glücklich, als er merkt, dass sie ihn doch beachtet. Schreibt über seine Angstattacken, die er schon als Kind hatte und ihn immer noch beeinträchtigen.
Und beschreibt dann auch, wie er versucht, wieder auf den Boden, wieder zu sich zu kommen, und vor allem seinen Liebeskummer zu lösen: Er stiehlt seiner Mutter 200 Franken und haut ab. Fährt zu Verwandten in den rätoromanischen Teil der Schweiz, wo die Familie früher regelmäßig zu Besuch war. Hier kommt er dann tatsächlich ein wenig zur Ruhe, spielt und kifft mit den etwa gleichaltrigen Gian und Ciara und hilft ihnen im strömenden Regen, Maulwurfshaufen plattzumachen. Übernachtet mit ihnen in einer verlassenen Hütte, wo sie vor dem Holzofen sitzen und sich im Bett zusammenkuscheln. Legt mit ihnen Steine auf die Schienen, damit der Zug über sie fährt und mit einem gewaltigen Knirschen zermalmt.
Es ist keine große Geschichte, es passiert auch nichts Außergewöhnliches, aber das macht grade den Charme dieses kleinen Romans aus. Lanz erzählt vom öden Leben auf dem Dorf, von den Nöten in der Schule, von der ersten Liebe und der Hoffnung auf den ersten Kuss - mehr nicht. Am Schluss des Romans ist Lanz dann auch ein wenig erwachsener geworden, hat etwas über sich gelernt: "Das Lustigste am Blog ist, dass ich immer erst merke, wie dumm ich bin, wenn ich lese, was ich mir so überlegt habe, die ganze Zeit."
Interessant ist der stringente Aufbau und die gelungene Struktur als Blog, der eine Woche erzählt, und die eigenwillige Sprache, eine Mischung aus Jugendsprache, Schweizer Hochsprache und dialektalen Einsprengseln, die aber nur sparsam eingesetzt werden: "Ich tat meine Tür zu und dreht mir zu Nirvana eine Zigi", heißt es zum Beispiel, oder "Dann exte ich den Kaffee und ging in mein Zimmer. Ich starte 'Heroes of the Storm', das ich game, seit ich elf bin." Es ist eine Kunstsprache, von Jecker erfunden und dem 14-Jährigen in den Mund gelegt, dennoch klingt sie frisch und passend und authentisch und wirkt nie überanstrengt.
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