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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

wünsche mir Lesebändchen für nächstes Buch ……..«

Hamburg

»pierre ist der Stein, und »was ich geschrieben habe habe ich geschrieben«, so beginnt Friederike Mayröcker ihre fleurs, den dritten Teil der Trilogie nach études und cahier, in einer Ahnung von Zärtlichkeit ……..«

ach das Atmen der Worte : die Sprache Friederike Mayröckers zeigt sich in fleurs losgelöst und freier als je zuvor, ihr Schreiben bleibt zwar gerade noch auf der Buchseite (ausgenommen der Schluss, denn das Buch endet mitten im Satz, das Ende des Satzes schwebt also im Moment des Lesens im Raum, ist nicht mehr auf der Buchseite zu finden), lässt sich dort aber kaum festhalten und bewegt sich unentwegt unruhig in den unterschiedlichsten Spaltenformen über die Seiten hinweg. Die vorübersegelnden Worte werden gleichsam von einem blütenwehenden, Blumen pflückenden Wind über die Seiten verweht.

mein Fichtenbäumchen hat genadelt, und auch ansonsten gebärdet sich der Text unbändig vor lauter Freude am Schreiben (ich meine es tollte der Text usw.) Nicht nur die Textanordnung auf der Seite ist immer wieder unerwartet hüpfend, auch Interpunktion und Gedankenflüsse bzw. –sprünge erscheinen wunderbar losgelöst, nehmen ihre Leser sehr gerne mit, lassen sich aber von anderen nichts vorschreiben und in keinster Weise einengen. Durch diese freien Gedanken- und Assoziationssprünge auch über Zeiten, in Form von Erinnerungen, hinweg entsteht eine Mehrstimmigkeit, der Text ist dadurch sehr polyphon, ach und 1 wenig Veilchen,« Gerade Kindheitserinnerungen nehmen viel Raum in fleurs ein. Aber da Friederike Mayröcker natürlich schon ein Dichterleben lang schreibt, können sich inzwischen ihre Sprache und Worte auch eigenständig erinnern – Wortverbindungen = ich war ganz baff …….. Bilder, oder auch die Figur Ely, die einem schon aus anderen Werken Mayröckers vertraut sind, blitzen als Zitat oder Erinnerung auf und verknüpfen so fleurs eng mit den vorhergehenden Werken. Mit einem Schritt Abstand betrachtet, werden auf diese Weise die einzelnen Werke Mayröckers zu einem großen Werk-Kosmos Friederike Mayröckers verflochten, in dem man sich ohne weiteres verlaufen kann und wo man nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte begeistert lesend verbringen kann (nein, ich spreche nicht aus Erfahrung, bei mir sind es erst wenige Jahre).

Die sprunghafte Hüpfigkeit des Textes ist, so richtig sie auch ist, zugleich aber auch sehr täuschend. Denn es ist die Hüpfigkeit des kleinen Nussschalenbootes, das man in einen großen Fluss (bzw. Flusz) gesetzt hat und dem man am Ufer nachläuft, um es nicht ganz aus den Augen zu verlieren, wobei der Blick auf den Fluss immer wieder von Bäumen und Gesträuch verstellt wird. Der Fluss selbst jedoch ist tief, von einer reißenden ruhigen Zielstrebigkeit erfasst. Ebenso tief sind die Texte Friederike Mayröckers und ebenso ununterbrochen fließend sind die unterschiedlichen Motivstränge und Fäden des Textes. Das offene Ende des Buches ist keine Unterbrechung der Rede, sondern ein Loslassen des Textes, eine Öffnung, eine Mündung des Flusses ins grenzenlos weit erscheinende Mayröcker-Meer.

möcht' ins schwindelige weiterdichten (als Clivia), für dieses weiterdichten müssen aber die Rahmenbedingungen stimmen und das sind neben einer hohen Zimmertemperatur auch elektrisches Licht. Wie wir uns den Moment des Schreibens selbst vorzustellen haben, wird ganz genau am 13.4.14 geschildert :

manchmal schreibe ich von meinen Träumen ab, ich empfange Verbalträume. Ich sitze gebückt fast kniend (wie Glenn Gould beim rasenden Spiel), man musz warten können bis es einschnappt, ich brauche eine hohe Zimmertemperatur und elektrisches Licht auch wenn die Sonne hereinscheint. Es ist eine grosze Aufregung so dasz mein Blutdruckwert aufs höchste, etc.

Friederike Mayröcker schreibt ein Dichterleben lang und ist in ihrem Schreiben nie stehengeblieben, hat sich dabei ständig weiterentwickelt und so ihre eigene Sprache gefunden oder erfunden, dasz ich die Wörter neu erfinden könne. Man kann wohl zu Recht sagen, dass keine andere Autorin wohl je so lange und konsequent am Fortschreiten und der immer weiteren Entfaltung des eigenen Schreibens gearbeitet hat. Bei Friederike Mayröcker kommt auch noch zusätzlich eine unglaubliche Offenheit und Neugier auf die sie umgebende Welt hinzu. Sie ist voll am Nerv der Zeit, was sie immer wieder dezent anhand kleiner Details aufblitzen lässt, »das Selfie der Christine Lavant«

Friederike Mayröcker schreibt keine Kurzgeschichten und auch keine Erzählungen, sondern schlicht und einfach Stücke von Poesie, wie sie selbst schreibt : meine schmalen Schriften = diese halluzinatorischen Stücke von Poesie

Dieses Feuerwerk der Sprache so hurtig im Mund während des Umrundens des Sees, die Sprache Friederike Mayröckers sprudelt nur so hervor, ist 1 Sprudel von Worten, lässt sich nicht bändigen. Der Titel fleurs verweist schon auf einen der zentralen Motivfäden des Bandes : Blumen, wild wuchernde Sprach-Vegetationen und erblühendes Frühlingserwachen, ach der Frühling mit seinen verschlüsselten Noten : Schlüsselblumen und Veilchen mir schwebt etwas vor, dabei steht der Frühling zugleich für die unerschütterliche Lebens- und Schreibfreude Friederike Mayröckers. Denn Friederike Mayröcker trägt zwar einen großen Rucksack und einige Taschen voll Erinnerungen mit sich auf ihrer unermüdlichen Schreibwanderung, blickt aber immer voll Vorfreude nach vorne : auf die 1. Schwalben, einen Veilchenregen, oder das mögliche Erblühen eines sich bislang verweigernden Fliederbusches.

Und selbst das Erinnern ist nichts statisches, sondern ein lebendiger Prozess :

/ paar Gliedmaszen fehlten mir dann : sodann : so gehst du mir ab, das oftmalige Ablesen einer Erinnerung von meinem Gedächtnis in einer Weise welche von Mal zu Mal variiert

Friederike Mayröcker ist vor allem eines : immer wieder aufs Neue unberechenbar überraschend »habe gerade die Ringelsöckchen angezogen musz mich erst ausweinen weil die Welt so traurig während das MORGENMASSIV usw.,

........ ach will nicht : kann nicht Abschied nehmen von mir, aufmüpfig widerspenstig wehrt sich Friederike Mayröcker gegen das Aufgeben und Abschied nehmen. 1987 erschienen, trägt ein Werk von ihr noch den Titel Die Abschiede, inzwischen hat sie ihren Blick aber beständig auf den wiederkehrenden Frühling und den frühen Morgen geheftet und möchte nicht mehr Abschied nehmen. An einer späteren Stelle in fleurs wird diese Aussage auch noch einmal verstärkt wiederholt :

ich will nicht ich kann nicht Ab-
schied nehmen von mir, usw.,

So schreibt Friederike Mayröcker auch morgens, bei Anbruch des Tages, auf Schreibpapier liegend am Morgen, finde ich mich, verzettelt und dieses morgendliche Schreibritual, das tägliche Hinsetzen an die Schreibmaschine, stellt den Halt gebenden Anker für ihr Leben dar :

(einfach so hinsetzen an die
Maschine am Morgen bei
wölfischem Heulen, nicht wahr,

Friederike Mayröcker schreibt Tagesblöcke, meist im Umfang von je einer Seite, gelegentlich auch bis zu eineinhalb Seiten umfassend. Diese sind jeweils mit dem nüchternen und genauen Datum (Tag, Monat, Jahr) versehen. Aber es kommt vor, dass auch das Datum von Poesie umfangen wird :

22.5.14, vielleicht
Veilchenmond usw.

Im Verlauf von fleurs gibt Friederike Mayröcker immer wieder tiefe Einblicke in ihre Schreib- und Arbeitsweise, beispielsweise verrät sie, dass das Verlesen oft einen Ausgangspunkt darstellt, ach dieser zischende Zustand, weiszt du, ich verlese mich oft woraus ich dann meine Beschwörungen,«

Schreiben oder nicht schreiben? Die Frage des nicht-Schreibens stellt sich Friederike Mayröcker nicht, könnte sie doch gar nicht freiwillig damit aufhören, kann nicht aufhören zu bluten Blutsturz der Poesie usw., stattdessen wirft der Text ganz andere nur schwer zu beantwortende Fragen auf, P.S. willst du lieber lispeln rückenschwimmen oder griechische  Verben auswendig lernen,

Und schon im Schreiben dieses Buches macht Friederike Mayröcker sich Gedanken über das darauffolgende Buch. Bereits auf Seite 60 wird ein möglicher Titel in den Raum gestellt ........ Titel fürs nächste Buch »lyrics« oder »lyrix«, zwei Seiten später steckt schon wesentlich mehr Überzeugung dahinter, was vor allem durch die Unterstreichung, die Umstellung der Wortreihenfolge und die Zeichensetzung (Doppelpunkt, Punkt am Ende und fehlende Anführungszeichen) ausgedrückt wird, da die einzelnen Worte, bis auf „fürs“ oder „für“, ident sind : lyrics oder lyrix : Titel für nächstes Buch.

Und »slickte« = »sluckte« = »schluckte« = »schluchzte«, der Wortklang ist ein starker Katalysator für die Texte Friederike Mayröckers, da schon ein einzelnes Wort eine richtiggehende Klangassoziationskette auslösen kann. Im seltensten Fall bleiben aber alle Zwischenstufen, wie beim Weg von »slickte« zu »schluchzte«, stehen. Oft wird auch ein Wort in echoartiger leichter Veränderung wiederholt, „verhört“ bzw. „verlesen“, indes der Seelenfaden Seelenvogel.

Literatur und Musik spielen eine ebenso wichtige Rolle in den Texten von Friederike Mayröcker, wie die bildende Kunst :

Die wortlosen = mannigfaltigen Bewegungen in meinem Kopfe sind wie Gemälde v.Pollok und vermögen es nicht sich zu frommen Lauchblumen = Formulierungen zu gestalten ……..

Wer Friederike Mayröcker auf den Fuszspuren der Poesie, usw. folgt, findet immer wieder Unvermutetes, wie …….. eine Ameise in der Schublade : verwirrt,

Auf Seite 80 bekennt Friederike Mayröcker, was für eine zentrale Rolle GLAS von Jacques Derrida, in welchem sie seit etwa 6½ Jahren lesen würde, für ihr eigenes Schreiben inne hat :

Nun ja, GLAS ist mein Morgengebet : ein Wort eine Wortfolge macht, dasz ich anfange in mein Zeichenheft zu schreiben : ich lasse mich anstecken von dieser Sprache ich erbreche mich ich erbreche Gemüt und Gedanken in höchster Erregung etc.

Vor diesem Morgengebet, welches dann das Schreibritual auf der Schreibmaschine auslöst, erfolgt noch das lächelnde Erwachen :

               ich wache mit einem Lächeln auf
indes mein Fusz über steinigem Präteritum
usw.,

Überaus fröhlich und vergnügt zeigt sich Friederike Mayröcker im Dialog mit ihren Lesern :

Ich überlegte : welchen Titel sollte ich dem 4.Teil der Tetralogie geben? ich verfiel auf »lune« oder »amour« oder »bourgeon« oder –

»rat« (was »Ratte«
bedeutete) ich meine

  wollte ich meine
    Leser düpieren?)

Damit relativiert sie die bis dahin unhinterfragte Aussage, man halte mit fleurs den Abschluss der Trilogie (études, cahier, fleurs) in Händen. Oder aber Friederike Mayröcker ist ihrer Zeit so weit voraus, dass sie nicht nur bereits immer schon im Schreiben eines Buches an das nächstfolgende denkt, sondern sogar bis zu vier Bücher voraus. Es wäre ihr beides zuzutrauen : dass sie kurzerhand aus der Trilogie eine Tetralogie macht ebenso, wie dass sie dieser Trilogie nunmehr eine Tetralogie folgen lassen möchte. Denn auch ihre Bücher reiht sie aneinander, wie sie es im Kleinen mit ihren Worten tut : lege dann die Wörter an wie Dominosteine bis 1 langes vielgliedriges Gebilde entsteht das mich mit Vergnügen erfüllt : plaisir usw.

Das eigene hohe Alter entlockt Friederike Mayröcker höchstens ein beiläufiges Schulterzucken, mit 90 als Frau, ist man altbacken,« womit sie unter Beweis stellt, dass auch Alter relativ ist : zum Altwerden fehlte ihr schlicht die Zeit vor lauter Schreiben, wodurch sie im Laufe der Zeit nicht nur unüberblickbar viele Bücher geschrieben hat, sondern nebenbei auch noch jung geblieben ist.

»keinem meiner Werke liegt ein Plan zugrunde. Aber es schwebt mir etwas vor. Eine kristallisierte Sprache und eine Handvoll Träume. Mit einer Handvoll Träume kann man sehr weit kommen, wie Friederike Mayröcker zeigt. Aber auch wenn sie ohne Plan schreibt, bedeutet das nicht Planlosigkeit. Viel mehr wachsen und entfalten sich ihre Texte vegetativ, folgen einer inneren Ordnung, die sich bei genauerem Hinsehen offenbart und nur bei schnellem Vorbeilaufen als ungeordnetes Chaos erscheint.

Denn selbstverständlich lohnt genaues Hinsehen bei Texten von Friederike Mayröcker. Allein über die Beistrichsetzung ließe sich eine eigene Arbeit verfassen – wann sie bewusst ausgelassen werden an Stellen, wo sie zu erwarten wären, und was es bewirkt, wenn sie plötzlich an unvermuteten Stellen eingeschoben werden (eine Synkope wenn ich an einer Stelle des Satzes einen Beistrich WIE TRÄNE setze wo er nicht hinpaszt)

Zusammenfassend lässt sich sagen : Friederike Mayröckers lodernde Poesie und Füllhorn-Sprache lesen und immer wieder und weiter lesen zu dürfen, ist ein grenzenloses Geschenk. Blickt man von dieser Lektüre auf, dann tut man das immer wieder aufs Neue : ergriffen staunend ahnend ratlos

und auch das Ende der Rezension sollte mitten
                                                                                                     im Satz

Friederike Mayröcker
fleurs
Suhrkamp
2016 · 152 Seiten · 22,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42520-6

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