Gegen den Mainstream und hohe Auflagen
hochroth lautet der Name, hellblau sind die Nummer und die Autorennamen am Cover. hochroth erscheint im Verlag hochroth, ein Verlag der in manchen Hinsichten gegen den Strom zu schwimmen scheint: er setzt nicht auf Mainstream und große Auflagen, sondern nimmt sich Zeit für das Besondere. Dies geht auch aus der Eigenbeschreibung im Verlagsprogramm hervor: „Mit seinem innovativen Konzept aus handgemachter Fertigung, Kleinstauflagen und bibliophilem Design bietet hochroth außergewöhnlicher Literatur ein Forum.“ Besonders, das sind sie ganz unumstritten, hochroth Nummer 5 und 6. Allein optisch und haptisch sind sie schon absolut überzeugend. Dass es so liebevoll gemachte „Büchlein“ (die Verkleinerungsform bezieht sich ausschließlich auf die Seitenzahl, und keineswegs auf den Inhalt) noch gibt, ist wundervoll. Jedes Exemplar von hochroth ist nummeriert, bei Bedarf wird nachgedruckt. Man könnte noch sehr lange weiterschwärmen über bemerkenswerte „Äußerlichkeiten“ von hochroth. Doch überzeugt man sich davon am allerbesten selbst, indem man eine der mittlerweile sechs Nummern von hochroth in die Hand nimmt.
Bei Harry Potter gibt es Koffer, welche von außen klein aussehen, aber innen dann riesig bis grenzenlos sind. Auch bei Terry Pratchett taucht ein ganz besonderer Koffer mit grenzenlosem Stauraum (und zusätzlich noch mit ganz vielen Beinen – aber das tut hier nichts zur Sache) auf. Ganz ähnlich ist es mit hochroth. Es enthält eine größere Bandbreite und Vielfalt an Texten, als sich eigentlich vom Umfang her ausgehen sollte. In hochroth Nummer 5 und 6 findet man Prosa, Lyrik, lyrikhafte Prosa, ein Essay und Übersetzungen. Und es ist auch noch Platz für Heiteres und Verrücktes. Auch sind die Texte in hochroth offen für fremde Kulturen (z.B. bei Adrian Koye und Verena Stauffer die japanische), andere Sprachen (z.B. Italienisch bei Elisabetta Abbondanza und Luca Viglialore oder Englisch bei Jessica Davies) und beschränken sich nicht allein auf Literatur, sondern befassen sich auch mit ganz anderen Gebieten (im Fall von Adrian Koye und Valerie Fritsch mit Musik, oder Philosophie bei Volker Sielaff).
Die Herausforderung und der Reiz von hochroth liegen darin, dass vorwiegend junge Autoren mit jeweils nur einem einzigen Text vorgestellt werden. Man muss sich also auf jeden einzelnen Text neu einstellen. Die Texte verlangen richtiggehend nach einer intensiven Lektüre.
5
hochroth Nummer 5 vereint sieben junge Autoren und Autorinnen mit ganz unterschiedlichen Texten: Adrian Koye, Jessica Davies, Valerie Fritsch, Volker Sielaff, Bernadette Schiefer, Reinhard Lechner und Sophie Reyer. Zusätzlich zu den Texten enthält es auch noch zwei Fotos und eine Illustration. Ein wiederkehrendes Motiv in vielen der Texte ist Musik. Ganz besonders bei den Texten von Adrian Koye und Valerie Fritsch. In dem sehr lesenswerten Nachsatz „Hinweise“ heißt es: „Lauter Texte, zuletzt ihrer [Sophie Reyer], in denen Musik oder das Fremde oder dessen Einbruch oder Klang eine Rolle spielen.“
Adrian Koye: Zu Sawari
Versuch über eine Möglichkeit interkulturellen Komponierens
In seinem Text beschreibt Adrian Koye sehr eindrücklich ein musikalisches Schlüsselerlebnis. Mehr durch Zufall stößt er in Zürich auf eine CD mit einer japanischen biwa-Spielerin und ist sofort fasziniert von dem Klang:
Mir schien es, als hörte ich jemanden ein zerbrochenes In-
strument spielen.
Dann setzte der Gesang ein. Nur schwer konnte ich glauben, daß
es die Stimme der jungen Musikerin auf dem Cover sei; heiser
und in den Höhen ins Falsett brechend, hätte es eher der Gesang
einer alten Frau sein mögen.
Nach dem Text ist man unheimlich gespannt auf das Stück, gerade weil es ein unmögliches Stück ist und der Autor/Komponist den ganzen Text hindurch damit gerungen hat, es aus verschiedenen Bedenken heraus nicht schreiben zu wollen auch wenn Ideen und Inspiration ihm keine Ruhe lassen.
Jessica Davies: Brief aus Paris
Auf der Seite vor Jessica Davies Text befindet sich ein schwarz-weiß Foto eines kleinen Tierschädels. Er starrt augenlos auf den Text und zeigt ihm seine Zähne.
Auch wenn die Überschrift anderes erwarten lässt ist der Text von Jessica Davies durchgehend auf Englisch verfasst. Ihre Sprache ist sehr klar. Der Text dreht sich um zwei Städte – Perth, wo sie aufwuchs, und Paris, wo sie derzeit lebt. Dabei hat sich herausgestellt, dass Perth keine Stadt ist, die man so leicht hinter sich lässt:
[...] Perth manages
to be one of those places where you will always see someone you
know. When travelling, you are guaranteed to cross paths with
the woman who lives down the street or someone who knows
someone you know. In the last two years living in Paris, I have
managed to unintentionally have dinner with a woman who grew
up next door to my mother and meet countless other Perthians.
Valerie Fritsch: Die Geigen
Schauplatz der Erzählung von Valerie Fritsch ist ein Geigengeschäft, in dem Zeit unwichtig geworden ist:
Über die Jahre war ihre Welt immer leiser geworden und die
Zeit abgeklungen zu einem Umstand, der irgendwann verging.
Schon zu Beginn werden immer wieder unheimliche Elemente eingestreut:
Die Tanzmeistergeigen hingen mit langen Hälsen an den
Wänden und die Cellos lehnten aufgespießt und einbeinig in den
Ecken. Die Violinen lagen stumm in ihren Etuis, als seien sie Särge [...]
Im Verlauf des Textes wird die Stimmung zunehmend bedrohlicher. Die Besessenheit von Laura Aich, der Besitzerin des Geigengeschäftes, wird immer greifbarer. Nachdem sie die Ladentür dreimal abgesperrt hat sind die Geigen ihr unausweichlich ausgeliefert. Und sie den Geigen. Nacht für Nacht.
Volker Sielaff: Die Leere, Deleuze
Das Gedicht von Volker Sielaff strahlt eine gewisse Leichtigkeit aus, scheint beinahe „in Morgenluft verpackt“ zu sein. Es setzt sich zusammen aus drei Strophen zu je vier Zeilen. Es ist anzunehmen, dass mit „Deleuze“ der Philosoph Gilles Deleuze gemeint ist und dass das Gedicht selbst auch immer wieder auf seine Theorien Bezug nimmt. Hier die mittlere Strophe des Gedichts:
Der Raum aufgefaltet in seine Möglichkeiten (alle).
Indianer mit Sporttaschen, Regen, das Wort Brombeerrand.
Im Benennen einatmen, im Loslassen des Benennens aus.
Erlesener Sommer durchträumte (gesäumte) Nacht.
Bernadette Schiefer: Wolf weil er nicht trauert
(Lupus a non lupendo)
Im Text von Bernadette Schiefer geht es um eine bedrohte Beziehung zweier Menschen. Dabei bleibt unentschlossen, ob eine einfache Trennung droht:
Der Mann denkt nicht so. Er sieht sie als Eindringling. Ein Herz-
spion. Er mag sie, aber das ist vielleicht auch schon alles.
Oder nicht doch der Tod selbst:
Jemand sitzt vor der Tür und schleift Messer. Er geht auf die Stelle
zu, das Schleifen verschwindet. Er macht einen Schritt zur Seite,
das Schleifen beginnt. Siehst du, sagt er.
Mitten im Text ist eine Seite mit einem Foto eines kleinen Bootshafen, vielleicht Singapur, eingeschoben.
Reinhard Lechner: Übertragung des Sinns
Ausgangspunkt des Gedichts von Reinhard Lechner ist eine Stadt, ein Schrottplatz:
Milde Eklipsen löst die Stadt, spaziert man wie Pessoa.
Ich tauche auf
werde Philosoph des Schrottplatzes.
Bitte kommt:
Karosserien, eine Rückbank
Bremsen umkreisen mich, ihr Indianertanz [...]
Im Zentrum stehen die (Auto-)Teile welche zum Leben erwachen. Könnten im vorherigen Auszug mit „Bremsen“ auch die Fliegen, nicht nur die Autobremsen gemeint sein, so wird doch oft betont, dass es um Teile geht:
Die Teile schließen die Augen: [...]
Die Grenzen zwischen Menschen und Teilen werden permanent verwischt.Es tauchen auch einige Menschen in dem Gedicht auf, ein „ich“, ein „du“ und ein Händler, eine Lenkerin, ein Lenker und ein Politiker. Die Teile haben menschliche Eigenschaften, welche den Menschen wiederum abhanden gekommen sind. So scheint das „ich“ Probleme mit dem Sprechen zu haben:
Sprachschweigen, vergletschert.
Wenn der Sinn übertragen wird wie der Titel aussagt, dann stellt sich die Frage, worauf er übertragen wird. Dass diese Frage nicht sofort eindeutig zu beantworten ist, macht den Reiz dieses Gedichtes aus.
Sophie Reyer: Puppenloop
Vor dem Text von Sophe Reyer ist eine dreifärbige (schwarz, rot, blau) Illustration von Caroline Coppey abgedruckt.
Sophie Reyers Text ist eine Endlosschleife des Zer- und Aufbrechens von Puppen:
Es ist nämlich das Gesetz des Zerbrechens, dass das, was sich teilen
muss, nicht weniger wird sondern mehr.
Der leichte Ton betont die abgründige Thematik noch zusätzlich. Der Text führt gewissermaßen durch die ständige Wiederholung die Unausweichlichkeit von Schmerz und Tod in ihrer ständigen Wiederkehr vor.
Aus der Puppe kommt was raus, das sich selbst ge-
biert. So ist es nämlich mit den Kindern, die gebrochene Mütter
haben: Sie müssen sich alleine zur Welt bringen, leider.
Mit der bis an die Spitze getriebenen Wiederholung positioniert sich der Text zwischen Prosa und Lyrik.
Jedenfalls
hat auch diese Puppe nicht viel Zeit, denn das Leben ist flutschig
und der Boden glatt. Also kullert sie. Die Puppe. Rollt mit dem
6
In hochroth Nummer 6 finden sich Beiträge von Joachim Sartorius, Tina Glaser, Elisabetta Abbondanza, Konstantin Hanack, La Lee Lena, Verena Stauffer und Luca Viglialoro zusammen. Neben den Texten der Autoren gibt es auch einen von G.H.H. mit dem Titel „Tagebuch“. hochroth Nummer 6 enthält eine Illustration und gleich zwei Übersetzungen. Es handelt sich dabei um Eigenübersetzungen. Die Gedichte von Elisabetta Abbondanza und Luca Viglialore sind sowohl auf Deutsch, als auch auf Italienisch zu lesen.
Joachim Sartorius: Der Katalog von Alexandria
Das Gedicht von Joachim Sartorius beginnt mit den unzähligen Schriftrollen in der Bibliothek von Alexandria, welche durch „stille Kopierarbeit“ ständig mehr werden und neue Anbauten notwendig machen. Einzig der Katalog schafft
Ordnung im Wirrwarr der Überlieferungen
Die nächsten Strophen sind ein Abschreiten, ein Durchmessen der riesigen Bibliothek. Von einer Halle der Kartographen zum Ende der Großen Kollonade und weiter zum Saal der Nekrologen. In den folgenden beiden Strophen werden die „Bestseller“ der Bibliothek aufgezählt. In der achten Strophe kommt es zu einem Bruch, markiert durch die Fettschreibung der ersten Zeile:
Doch den größten Zuspruch hat ein leerer Raum
nur ein paar Liegen und Öllampen
Alles andere kosmische Finsternis
Damit sind wir im eigentlichen Kern der ganzen Bibliothek angekommen, dem Schlüssel zum Verstehen. Diese, schon allein durch die eine fett-geschriebene Zeile optisch sehr stark hervorstechende Strophe, stellt gewissermaßen den Kipp- und Mittelpunkt des ganzen Gedichtes dar. Die sieben vorhergenenden Strophen sind ein sich-darauf-Hinbewegen mit großen Schritten. Jede Strophe befasst sich mit anderen Besonderheiten der Bibliothek. Die sieben folgenden Strophen hingegen thematisieren einzig die Eigentümlichkeiten dieses einen leeren Raumes voller Schatten:
So viele kommen in diesen Raum
zur Erziehung des Auges
damit sie in den Schriftendie Fallen ausmachen können und die Türen
und schließlich verstehen
die leere Stelle des vollkommenen Katalogs
Tina Glaser: Zeitgenossen
Mit genau beobachtendem Blick beschreibt Tina Glaser das Gefangensein im sinnlosen Alltagstrott. Ferdinand hat neben seiner Arbeit überhaupt kein Leben mehr. Er hat Schlafprobleme, raucht immer mehr und befindet sich in einer fast vollständigen sozialen Isolation. Sein Zustand verschlechtert sich immer weiter und es scheint keine Besserung in Aussicht. Durch eine unerwartet abgesagte Abendveranstaltung findet er sich unvermutet vor Sonnenuntergang auf der Straße und beschließt seinen alten Freund Robert M. zu besuchen. Beim Kaffee im Café Korb – Schauplatz der Erzählung ist Wien – sitzen sie einander zunächst noch wie Fremde gegenüber, doch das ändert sich schnell als sie zu Bier übergehen. Sie kommen ins Nachsinnen und es entwickelt sich ein höchst philosophisches Gespräch, welches einen von ihnen verändert zurück lassen wird:
Wenig später verabschiedeten sich die beiden Freunde und gin-
gen hinaus in die Nacht. Der eine ging nach Hause, der andere
davon.
Elisabetta Abbondanza: Schwan
Cigno
Dem Gedicht von Elisabetta Abbondanza ist eine Illustration gegenüber gestellt. Sie zeigt ein sehr geometrisches Zimmer voller Spiegel. Im Raum befindet sich ein kleiner Hund und eine lesende Frau, welche jeweils einzeln in einem der Spiegel gespiegelt werden, niemals aber zusammen. Die Illustration ist ganz in Brauntönen gehalten und wirkt auf den ersten Blick sehr ruhig. Erst wenn man sie sehr lange betrachtet wirkt sie immer seltsamer.
Das Gedicht von Elisabetta Abbondanza hat den Titel „Schwan“ oder „Cigno“. Schwäne sind ein Motiv, welches sehr häufig in der Literatur aufgegriffen wird (z.B. der Schwanentraum in Kleists „Die Marquise von O...“ oder im Sonett „Le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui“ von Mallarmé). Das Gedicht reiht sich also allein schon mit dem Titel in eine lange Tradition ein.
Das Gedicht umfasst nur wenige Zeilen. Es entstehen sehr eindrückliche Bilder…
Während unter dicken schmutzigen Platten das Eis
Im Kanal langsam verbraucht,
…und dennoch bleibt das Gedicht als Ganzes irgendwie schwer zu fassen.
Zuerst steht das Gedicht auf Deutsch, danach auf Italienisch. Welche Fassung die Übersetzung ist, lässt sich vom Gedicht her nicht entscheiden. Die Hinweise von G.H.H. legen jedoch nahe, dass zuerst die italienische Fassung entstanden ist. Dass die italienische Fassung direkt unter der deutschen anschließt passt auf jeden Fall sehr gut zum Motiv des Wassers und der Strömung – Strömung ist immer gleich und doch immer neu. Auch das Gedicht kehrt wieder, fließt vorbei, bleibt dabei gleich und ist doch anders. Übersetzung als Spiegelung würde wiederum den Bogen zu der Illustration mit den vielen Spiegeln auf der Gegenüberseite schließen.
Lui dall’ombrosità del tuo sguardo
Konstantin Hanack: Psychiater
Mit 36 Jahren wurde er IM
Und hörte Patienten ab und aus.
Der Titel verrät es, wir haben hier ein Gedicht über einen Psychiater vor uns. Dieser Umstand allein wäre eigentlich schon bemerkenswert, aber es geht nicht um einen gewöhnlichen Psychiater, sondern um einen schreibenden Psychiater. Ein schreibender Psychiater, der sein Gegenüber davon heilt ebenfalls Psychiater wie er werden zu wollen.
La Lee Lena: Sternschnupperkurs
Schon einmal des Nächtens sterngeschnuppert? Nein? Dann ist es allerhöchste Zeit für einen Sternschnupperkurs mit La Lee Lena! Doch seien Sie gewarnt vor den nachhaltigen Folgen des Sternschnupperns:
Man könnte dabei selbst erleuchten
neue Gedankengalaxien entdecken
mit Leichtigkeit die Schwerkraft austricksen
und vieles mehr –
Also keine Angst
sternschnuppern kann zwar süchtig machen
aber schadet nicht
Tagebuch 29.11.1998: G.H.H.
Der Beitrag von G.H.H. ist ein Essay, ausgehend von „globaler“ Vernetzung, virtuellen, parallelen und fiktiven Welten. Simulation und das Ersetzen des Menschen durch Maschinen ist bereits in vielen Gebieten Usus geworden. Ein sehr bedrohlicher Umstand, macht man ihn sich erst einmal in seinem vollen Ausmaß bewusst:
Ein wesentliches, immer rascher
sich entwickelndes Anwendungsgebiet von Simulationen, virtu-
ellen Hilfsmitteln und Ansätzen zur Substitution des Menschen
als verantwortlichem Akteur ist ferner die Medizin. Nicht für die
Entwicklung von Spielen oder von neuen Formen der Medizin
aber stehen die meisten Mittel zur Entwicklung virtueller Realität
und „denkender Maschinen“ zur Verfügung, sondern für die Vor-
bereitung auf den Krieg.
Schließlich werden fünf Felder aufgelistet: Spiel, Medizin, Krieg, Eros und Text. Für alle diese Bereiche gelten Spielregeln, welche am besten erfüllt werden können, wenn der „menschliche Faktor“ so weit wie möglich ausgeschaltet werden kann:
Da die Mitspieler der unberechenbare Faktor des Spieles sind,
muß jede solche Projektion dazu tendieren, den Menschen in der
Spielumgebung zu integrieren, in ihr aufgehen oder sich auflösen
zu lassen. Erst die Verringerung des „menschlichen Faktors“ läßt
die Spielregeln sich vollkommen entfalten.
Verena Stauffer: Hyotan Kara Koma
in dir wringen tropfend wörter
Die Musikalität ihrer Texte zeigte sich bei einer Lesung am 12. Juni 2013 in Wien. Dabei entwickelte sich ein wunderbarer improvisierter Dialog mit dem Cellisten Lukas Lauermann.
Das Gedicht „Hyotan Kara Koma“ erweckt den Eindruck, als ob viele Stimmen zu einem gebündelt worden wären. Sehr präsent ist die japanische Kultur. Einerseits schon allein durch den Titel, andererseits auch im Gedicht selbst, besonders offensichtlich in der Nennung des Fuji. Einige der leichter festzumachenden Themenkomplexe sind Leben – Sterben, Natur – Künstlichkeit, Reisen in die Fremde, oder Münder – Wörter. Daneben gibt es aber noch unzählige weitere, welche auch noch in verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten auftauchen.
Die Form des Gedichts ist ebenso bemerkenswert. Es setzt sich zusammen aus 6 Strophen zu je 6 Zeilen (die 7. und letzte Strophe fällt auf den ersten Blick etwas aus der Reihe, dazu aber später). Hier die erste Strophe:
konstruktivismus nicht natur
simulation nur so leben
redetrieb alternder münder
zauberpferd niemals sterben
ohne worte weit ver/reisen
würfe formen diese wörter
Die ausschlaggebenden Worte sind dabei jeweils das letzte Wort der Zeile (natur, leben, münder, sterben, reisen, wörter). Diese stehen auch in den anderen Strophen jeweils am Ende einer Zeile, aber immer in einer anderen. Sucht man sich beispielsweise alle Zeilen, in denen „reisen“ am Ende steht, heraus entsteht folgende Zusammenstellung:
ohne worte weit ver/reisen
welt des anderen be/reisen
sitzend über welten reisen
in geträumtem sanft be/reisen
auf weißem zauberpferd reisen
zum erfassen weiter reisen
In der 7. Strophe geht der Text in einem durch. Sie umfasst daher nur drei Zeilen. Die 6 Schlussworte der vorhergehenden Strophen stehen nun mitten im Text. Sucht man sie aber bewusst, so zeigt sich, dass sie in der gleichen Reihenfolge wie in der allerersten Strophe auftauchen:
immer verstehen in die natur werfen, ins hyotan kara koma leben
das zauberpferd reiten, davon, den redetrieb der münder sterben
in ein bild reisen, sehen, was es ist und wörter heulen in die lüfte
Luca Viglialoro: Underground
Meine Schuhe füllen sich mit Erde
aber für dich Wort gibt es keinen leeren
Gang.
Das Gedicht ist zunächst auf Italienisch, danach auf Deutsch zu lesen. Der Titel ist bei beiden unverändert das englische „Underground“. Der Titel des Gedichts ist nicht so selbstverständlich, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. G.H.H. dazu: „Der englische Titel seines Gedichts darf als bewusste Irreführung gelten. Underground? Eine Metapher, normalerweise. Hier nicht.“ Er wird am Schluss des Gedichtes wieder aufgegriffen:
quel muto appartarsi
in un mistero sottosuolo.
jenes stumme Sichabteilen
in ein Geheimnis unter Grund.
Fixpoetry 2013
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