Wir sind durch und durch Zuchtvieh.
Wenn wir in Mitteleuropa über Wildnis nachdenken, dann denken wir über eine Gegend nach, die es im Grunde zumindest hier nicht gibt. Allenfalls denken wir an Maysche Prärien, den Dschungel oder Berge jenseits der Baumgrenze. Wir sprechen in einer Tradition von etwas, was wir eher dem Märchen zurechnen. Unsere Domestizierung reicht soweit, dass wir auch unsere Vorstellungen und Phantasien domestiziert haben. Wir sind, könnte man sagen, durch und durch Zuchtvieh.
Dieses Problem ist, wenn es denn eines ist, im romantischen Dualismus von Wild und Zahm oder Zivilisiert nicht zu lösen, denn alles was wir als wild erachten, siedeln wir in einer Vergangenheit oder einem Draußen an, gewissermaßen in einem Urzustand, einem Zustand vor der Domestizierung. Wenn es in vorchristlicher Gestalt über uns herein bricht, kommt es als Unheil, als Blutsaugender Vampir wie weiland Bram Stokers Dracula.
Diesem Zustand helfen wir sowohl unsere Ängste als auch unsere Hoffnungen über, die Wildheit ist etwas, das es entweder zu retten (wilde Tiere), oder einzudämmen gilt (wilde Menschen). Zuweilen wird sie als sexuelle Ausschweifung gefeiert oder verachtet, je nachdem, wie es ins Konzept passt. Immer aber ist der Gedanke an Wildheit ein Reflex auf den Zustand unserer gesellschaftlichen Verfasstheit, ein Gedanke, der keineswegs von außen an uns herangetragen wird, sondern unser eigenes Produkt ist.
Man könnte mutmaßen, dass unser europäischer Blick aus einer durchstrukturierten Umwelt herrührt, weil hier, in Europa doch alles Stadt ist, es den Raum zwischen den Städten im Grunde nicht gibt, die Ausfallstraßen genaugenommen unmittelbar zun Einfallstraßen der nächsten Ortschaft werden.Allerdings ist es auch so, dass in einigen Gebieten Rumäniens Braunbären in Mülltonnen wühlen wie in Präsentkörben, und wenn ich den Blick zu einer bestimmten Zimmerecke hebe, sehe ich das Netz einer Zitterspinne. Ganz gleich wie oft ich dieses Spinnennetz zerstöre, nach wenigen Stunden ist es wieder da.
Der Verlag Matthes & Seitz legt nun eine Reihe Essays des amerikanischen Lyrikers, Theoretikers und Naturschützers Gary Snyder unter dem Titel „Lektionen der Wildnis“ vor.
Snyder wurde 1938 in San Francisco geboren, studierte Anthropologie und orientalische Sprachen. 1975 erhielt er für den Gedichtband „Turtle Island“ den Pulitzerpreis. Heute lebt er zurückgezogen in der Sierra Nevada.
Übersetzt wurden die Texte von Hanfried Blume, der 2009 starb, und aus dessen Nachlass dieses Buch herausgegeben wurde. Ich würde gerne aus dem Nachsatz von Frieda Knapp und Michael W. Schröter zitieren, der in wenigen Worten über Blume informiert, aber ich müsste ihn komplett wiedergeben, um ihn zentral zu treffen. Soviel nur: er produziert ein unbändiges Interesse an Blumes Arbeit.
Aber zurück zu Snyder. Das, was in diesen Essays aufscheint, ist eine Demokratie der Disziplinen. Und genau das macht sie für mich so anziehend, und natürlich, dass sie blendend geschrieben und übersetzt sind, die Lektüre also nicht wie bei vielen Wissenschaftstexten ein Kampf ist, sondern Spaß macht. Die Texte mäandern, wie ein Fluss vor seiner Begradigung, durch verschiedenste Wissenslandschaften. Immerhin hat z.B. der Rhein durch Begradigung in den letzten zweihundert Jahren ca. 500 Kilometer eingebüßt. Und wahrscheinlich ist eben das der Hauptfehler unsere Zivilisation, dass hier nur das sinnvoll erscheint, was sich letztlich restlos ökonomischer Verwertung unterordnet. Und so diszipliniert unsere Wissensökonomie auch unsere Gedanken.
Die Lektüre der Essays von Snyder entfachte in mir ein Gefühl der Befreiung, denn sie fütterten meine altlinken Vorurteile nicht. Da wo sie mich zum Nicken zwangen, nahmen sie meist eine Wendung, die das Denken wieder einsetzen ließ.
Es heißt beispielsweise unter der Kapitelüberschrift „Leopardenmütter“ : “Metaphern von der 'Natur als Buch' sind nicht nur ungenau, sie sind sogar schädlich. Die Welt mag zwar von Zeichen übersättigt sein, sie ist aber kein fixierter Text, mit ganzen Archiven und Kommentaren. Die übermäßige Bindung an das Buch als Modell, geht mit der Annahme einher, vor Beginn der Geschichtsschreibung habe sich nichts ereignet.“
Hier trifft amerikanische Tradition frontal auf Kontinentaleuropäische, die sich in Derridas Dekonstruktivismus manifestiert. Im Ergebnis des Crashs erwarte ich mir geradezu Wunderdinge. Die Reflexion ist eröffnet. Und als nächstes werde ich mir Snyders Gedichte bestellen.
Faszinierend in diesem Buch sind im Übrigen die Berichte von Reisen in abgelegene Gebiete und Gespräche mit Menschen, die Snyder dort traf. Das Hinterwäldlerische der Hinterwäldler wird angesichts dieser ektüre zur Projektion des Zentraleuropäers, also zum Spiegel. Und es ist ja nicht so, dass Snyder Rezepte zur Lösung unsrer zivilisatorischen Probleme bereithält, etwa im Sinne von „Zurück zur Natur“ oder ähnlichen Slogans. Es geht um Beweglichkeit und Bewegung. Denkbewegung und Handeln.
Fixpoetry 2012
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