Was ist passiert?
"What happened?", fragen sich Georg Diez und Christoph Roth. Was ist passiert, dass wir in der Welt leben, in der wir jetzt leben? Eine Frage, die sie mit zwei Jahreszahlen beantworten: 1980 und 1981. Sie sind, so die These der Autoren, die Ursprungsjahre unserer gegenwärtigen Situation.
Der Beginn der 1980er Jahre ist dabei nicht mit einem abrupten Neuanfang gleichzusetzen. Vielmehr kulminieren hier Entwicklungen, die bereits vorher angefangen haben. Die Zeit der Hippies ist zu Ende, Punk wird zum Auslaufmodell. Die elektronische Musik steht in den Startlöchern, die Neue Deutsche Welle hat noch nicht angefangen. Reagan wird Präsident und Beuys ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere. In dieser Zeit keimt die Suche nach etwas „neuem Neuem“, wie es in einem der Fragmente heißt. Dieses neue Neue ist ein wichtiges Thema des Buchs. Und dieses neue Neue ist für uns bereits zur Geschichte geworden. In solchem Bewusstsein ist 80*81 bei weitem keine objektive Darstellung von Zeitgeschichte. Es ist vielmehr eine selektive, durchaus subjektive Zusammenstellung von Fragmenten zu einem Narrativ mit Absicht.
Das Buch ist ein Panoptikum von zusammengetragenen und systematisierten Statements. Die Autoren haben Interviews geführt, haben textliche Artefakte genommen und sie zusammengeschnitten. Hat man das ganze Buch durchgelesen, sieht man die vielen Fäden, die hier versponnen sind. Am Anfang ist man aber schlichtweg überfordert von der Vielzahl von Stimmen, Perspektiven und Themen. Die durchnummerierten Überthemen und mit Buchstaben markierten Unterthemen entfalten ihre eigene poetische Logik. Assoziativ stehen Romanauszüge von William Burroughs neben Zitaten aus Akten. Viele der Quellen stammen aus den Jahren 1980 und 1981, viele sind Erinnerungen an diese Jahre. Hin und wieder springt der Text in die Gegenwart und andere Momente nach den diskutierten Jahren, aber nie ohne Bezug auf ein bestimmtes Event oder einen anderen Erzählstrang.
So entfaltet sich ein subtiles, loses Narrativ. Der Text erlaubt sich zu erzählen, indem er Fakten und Daten aneinander reiht, sie miteinander vergleicht und die absurdesten Dinge in Beziehung setzt. Viele der Texte beschäftigen sich mit Kunst, mit Popkultur, mit Zeitgeschehen, mit Politik und häufig auch mit aufgedeckten Verschwörungen. Das Spannungsfeld dieser Themen gibt dem Buch eine unheimliche Breite. Viel Information wird auf wenig Raum kommuniziert. Diese Informationsdichte füttert das Kurzzeitgedächtnis, aber sie lässt auch immer wieder staunen, hinterlässt einen tieferen Eindruck, lässt die Informationen ins Langzeitgedächtnis wandern. Irgendwo ist diese Text wie ein Feed: Informationshappen nach Informationshappen wird dem Leser hingeworfen und genau dann, wenn das vom Internet verwöhnte Hirn abschalten will, kommt ein neuer Unterpunkt. Attentate auf den Papst, amerikanische Wahlkämpfe, Andy Warhol, AIDS, Yoko Ono, die Grünen - sie alle sind Protagonisten in dieser Erzählung vom Beginn des neoliberalen, post-modernen Zeitalters.
Hinzu kommen Bildteile, die wie Trenner zwischen den Textabschnitten stehen. Sie funktionieren wie Kapitel. Ihr Inhalt ist ebenso collagiert wie die Texte. Fotos aus der Presse, Cover, Fundstücke, Photographien: alles in Schwarz-Weiß, alles stumme Zeugen neben dem Chor aus Stimmen. Sie erscheinen wie fremde Objekte in dem Katalog einer Ausstellung. Unterstützen sie den Text? Die Quellen stehen erst am Ende des Buchs. Die Texte beziehen sich nicht auf sie. Stehen sie neben dem Narrativ? Nein, sie sind der visuelle Teil, das Futter für die müden Augen. So wird der Leser durchaus intelligent gelenkt. Die Bildteile wirken wie eine willkommene Werbeunterbrechung.
Neben den visuellen Elementen sind es Loops in der Erzählung, die den Leser abholen. Manche historische Fakten, wie z.B. das Attentat auf Papst Johannes Paul II., werden nicht stringent aufgearbeitet, sondern fragmentarisch von hinten aufgerollt. Es beginnt mit einem erzählenden Abschnitt, dann kommen andere Fakten, andere Dokumente, andere Zeugen hinzu, dann, am Ende, beginnt die Geschichte von neuem. Das gleiche Textstück wie zu Beginn taucht wieder auf. Diese Schleife führt uns vor Augen, wie wir denken. Die Wertungen einer Information ändern sich mit dem Kontext. So schließt sich an die Frage „What happened?“ eine neue Frage an:
Was denken wir, was passiert ist? Und warum?
Mein persönlicher Lieblingsteil des Buches sind die Fragmente aus der Zukunft. Fiktive Nachrichten aus dem Jahr 2081 erzählen von einer Welt, die neu und doch bekannt ist. Aktuelle Trends werden ins Extreme getrieben – esoterische Spinnereien, Erzählungen von einer Zeit nach der Apokalypse. Sind das wirklich nur fiktive Aufzeichnungen oder Nachrichten aus der Zukunft? Und wenn diese Fragmente fiktiv sind, wie weit kann man dann den historischen Stimmen vertrauen? Die in die Zukunft datierten Texte gehören zu den intelligentesten im ganzen Buch, weil sie fiktiv sind. Sie zeigen dem Leser, wie leichtgläubig er ist. Sie fließen so nahtlos in die Collage ein, dass man gewillt ist, ihnen zu glauben. Sie werfen die Frage, die ich weiter oben beschrieben habe, in die Zukunft: Was denken wir, was passiert ist? Wie konnte es so weit kommen? Zugespitzter: Wollen wir es so weit kommen lassen? Oder können wir die Welt vielleicht noch retten?
Ursprünglich erschien diese Collage aus Fakten, Texten und Bildern in einer elfbändigen Reihe. Merve hat unter dem Titel „What happened?“ große Auszüge aus diesem Forschungsprojekt der Zeitgeschichte zusammengefasst. Ein lesenswertes Buch, durch und durch. Man muss nicht alles verstehen, man muss nicht alles einordnen, aber man will es nicht mehr weglegen. Die Perversion der Welt, in der wir leben, scheint zu Beginn der 1980er ihre Inspiration und ihren Drive bekommen zu haben. Wenn wir die Gegenwart verstehen wollten, müssen wir uns mit ihrem Ursprung beschäftigen. Georg Diez und Christoph Roth ist das gelungen.
Also: Was ist passiert?
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