Die Geisteswelt als Einholung eines antiken Versprechens.
Ich bin ein wenig hin und her gerissen. Zum Einen missfällt mir der altväterliche Gestus, mit dem dieses Buch daher kommt, es erinnert mich an die Figur Gottes in Goethes Prolog im Himmel. Sie ist leicht tapsig, im Bewusstsein ihrer Macht aber derart souverän, dass alle Sophistereien, die Mephistopheles hervorbringt, an ihr abprallen. Der Mensch denkt, Gott lenkt, pflegte meine Großmutter zu sagen und die musste es wissen, war sie doch Parteisekretärin im Dienstleistungskombinat FIX (sic!) in Karl-Marx-Stadt. Zum andern nimmt mich Steiners Geradlinigkeit und sein geradezu stur zu nennendes Festhalten an der europäischen Überlieferung für sich ein. Man könnte meinen, Steiner blicke wie ein antiker Mensch auf den Atlantischen Ozean, als ob es auf der anderen Seite kein Ufer gäbe.
Aber das kenne ich schon, war meine erste Begegnung mit dem Autor doch ein Text, indem er sich über die zunehmende Flut von Sekundärliteratur beklagte, die die großen Primärtexte gleichsam einnebele. Im Grunde bräuchte man auf die Sekundärliteratur nichts geben. Ich fühlte mich Seinerzeit durchaus angegriffen, war ich doch als Philosophiestudent mit nichts andrem befasst gewesen, als mit der Verfertigung von erläuternden Sachtexten zur Tradition, und die Zeit der Primärtexte (in Steiners Sinne) schien unwiderruflich vergangen. Blieb uns Gegenwärtigen also nur, Sachwalter einer übergroßen Überlieferung zu sein, die alles Gute und Herausragende schon hervorgebracht hatte (außer vielleicht Steiners eigene Essays, die all das letztlich bewahrten), und auch die Auswahl der Lektüren, die dieses neue Buch bietet, sind, sagen wir es etwas wohlwollend, mehrfach abgesichert. Wir treffen hier auf einen zutiefst konservativen Autor, und wie allen echt Konservativen, kann ich ihm im Grunde nicht böse sein. Bringt er mich doch im wahrsten Sinne des Wortes auf die Palme, und von dort aus ist die Aussicht gut.
Steiner beschäftigt sich in seinem langen gut lesbaren Essay mit Hünen, mit Leuchttürmen, tradierten Größen, Platon, Lukrez, Descartes, um nur einige zu nennen, Hume,Galilei, Bernhardt. Aber das heißt auch: Steiner ist kein Akrobat, er braucht kein Netz, denn wenn man auch auf Rücken turnt, sind diese breit genug, dass es eine Kunst wäre, herunterzufallen. Und er turnt ja auch nicht, schlägt kein Rad, verlässt die tausendjährigen Pfade nicht. Er wandert als alter, eleganter und unerschütterlicher Weißbart auf den Pfaden der Literatur und Philosophie.
Auf Seite 67 lässt er wie beiläufig etwas zum Gegenstand des Textes fallen. „In diesem Essay unternehme ich den Versuch, zu erhellen, in welchem Ausmaß alle Philosophie Stil ist.“ Man könnte sagen, hier lässt er die Katze aus dem Sack. Der Gedanke ist nicht neu, Theorie als große Erzählung aufzufassen. Aber Steiner lässt es nicht dabei. Nicht nur sind ihm die Großen Philosophen große Erzähler, sondern die seiner Ansicht nach großen Literaten auch Große Philosophen. Das ist spannend, wenn Steiner die Dialoge von Platon bis Hume untersucht, seine stilistischen Analysen von Galilei sind brillant (wenn man dieses alte Wort mal benutzen darf, dass wie aus einem vergangenem Jahrhundert herüber weht). Ganz besonders mochte ich die Passagen zu Lukrez, auch wenn sie zugleich mein Problem mit dem Text bargen:
„Wenn Lukrez den Höhepunkt der 'denkenden Dichtung' markiert, der poetischen Begründung und Darstellung systematischer philosophischer Absichten, die bis zu den Vorsokratikern zurückreichen, so erweist sich De rerum natura zugleich als verlängerter Epilog. Welche gelungenen philosophischen Epen hat es danach noch gegeben?“ Und was bleibt uns, könnte man fragen, außer zu sehen und zu staunen? Na ja.
Steiner ist kein Entdecker, sondern er ist Exeget. Steiner übt sich in Demut, was allerdings das Schlechteste nicht ist und ihm selbst zu stilistischer Blüte verhilft.
Ganz in Hegelschem Sinne scheint mir Steiner die Geisteswelt als Einholung eines antiken Versprechens zu sehen. Im Grunde, meint man, ist in den Vorsokratikern alles schon angelegt und die Geschichte ist die von Entfaltung und Rückbildung. In dieser Hinsicht hat man im Grunde immer das Gefühl, zu spät oder zu früh zu leben und nie zum richtigen Zeitpunkt. Und das ist auch das Problem der Systematik. Wenn sie auch etwas anderes behauptet, der Augenblick hängt für sie doch immer am Tropf einer allgemeinen Bewegung.
Ich kann nicht anders und lese Steiners Buch als Rückblick und Abgesang auf einen funkelnden Universalismus und Eurozentrismus.
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