Natur und Sprache
Zeugnisse einer außergewöhnlichen Doppelbegabung begegnen dem Leser in den Gedichten von Grit Kalies, der 1968 in Altentreptow/Mecklenburg geborenen Lyrikerin und Naturwissenschaftlerin. Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und habilitierte sich 2005 im Fach Physikalische Chemie.
Ihr erster im Mitteldeutscher Verlag Leipzig erschienener Gedichtband „Auf Zeit“ trifft gleich in medias res auf die äußere und menschliche Natur, auf deren Gesetz bestimmt von Dauer im Wechsel. Aber „Die Zeit hatte sich in den Worten versteckt“ heißt es in „Nachbemerkung“ und im programmatischen Gedicht „Poesie“: „So ein langsames Gift/braucht Jahrzehnte (wenn nicht/ Jahrhunderte)...Es zieht alles maßlos in die Länge./ Dem Tag gibt es die Stunden/ der Nacht gratis dazu. Trauer/ verlängert es mit Trost. Wissen/ dehnt es zu Ahnungen.“ Der Zeilenbruch entzweit den Genitiv und die Interpunktionen mitten in den Zeilen machen aufmerksam auf das Brüchige und bringen in der Umkehr und den Wortwendungen betont durch Alliterationen wiederum neue Verbindungen hervor: von Tag, Trauer und Trost.
Seit langem ist nicht mehr mit derartiger Ernsthaftigkeit von der existentiellen Notwendigkeit von Poesie gesprochen worden. Neben Gift steht Trost, als gehörte scheinbar Unvereinbares zusammen. Akribisch genau werden die chemischen Nebenwirkungen des Giftes ausgebreitet: „(Lies die Packungsbeilage...“ und gleichzeitig an die „Macht der Möglichkeiten“ appelliert „Aber nicht gleich. Erst versuch es/ ein paar Jahrhunderte lang/ mit Poesie.“ Eine andere Art von Gift, dessen ‚Glaubwürdigkeit’ „Auf Zeit“ setzt und das in der mittelhochdeutschen und der heutigen englischen Sprache Gabe, Geschenk, Begabung bedeutet.
Es ist dieser schwebend-eindringliche und gezielt auf Verwandlung, ausgerichtete Ton,der diese lyrische Stimme trägt. Viele Gedichte klingen mit ihren Wiederholungen, (Binnen-)Reimen und beweglichen freien Rhythmen wie Wortmusik, die spannungsreich einer lexikalischen Kargheit und einem syntaktisch schlichten Stil untergelegt ist.
Das Sprachspielerische kommt wie in einem Kinder-Abzählreim daher „Im letzten Schluss.“ Und das Leiden an der Vergänglichkeit, am Unterlassenen das Vergebliche aufzeigend und das Unmögliche wollend und am Erkennen, dass Denken und Handeln, Losgehen und Ankommen dem Stillstand nahe kommen, wenn sie in eins fallen, wirkt hier über die sprachliche Klangwirkung durch Enjambements und Assonanzen, die zu einer eigenen Ordnung findet, und deren Rhythmus aufgehoben.
Gegenläufig trifft ein skeptischer Ton den eigenen Dichterstand „An die Unbelehrbaren:“ ...Ordnet, Poeten, euren Schmerz/ auf der Richterskala zwischen eins/ und zehn und seht ein: Er ist klein/ ...Lasst das Schreiben sein. Besser/ das Messer...
Verstörend wirken bisweilen auch andere Szenen harter Gewalt in dem Gedicht „Ich, Kain:“ „...und dunkel war es, Nacht/ so kalt und fremd, das Messer/ lag mir blank im Hemd, es glitt/ in seinen Leib, so bleib/ du Bruder...“ und in „Abel:“ ...Kain/ hat auch sie getötet:/ die Schwester. Dort/ in der Nacht trieb er hinein von oben/ von unten ins Blut/ ihr sein Eisen...“ In einen neuen narrativen Kontext gerückt kristallisiert sich das Unheil konkret im Zwischenmenschlichen wie auch im ungreifbar Äußeren, das mehrmals unter dem Namen Dow Chemicals benannt ist.
Was bleibt ist die Evokation an den „geübten Wind“, die sich über Styx und Charon hinwegsetzt, an eine Kraft, die in die Welt hinausgetragen werden will, in deren Kosmos Bäume, Wolken, Wald und Wiese, aber auch Wechselkröte und Mäusepaläste Platz
finden.
Der Dichterfreunde im Geiste wird gedacht: J.L.Borges, V. Nabokov, V. Woolf, C.Nooteboom in „Plagiate“: „Immer wieder meine Worte/ in ihren Zeilen...“. Und wenn auch Natur und Sprache in ihren Widersprüchlichkeiten nie kongruent, sondern leicht
versetzt sich spiegeln und damit für Kontinuität sorgen, hat der Leser in der Beschäftigung mit diesem Lyrikbuch ein Stück Zeit verloren, aber u.a. folgendes meisterhafte Gedicht gefunden: „Es kommt die Zeit// Sie kommt/ dir entgegen, da hinten/ noch würdigen Schrittes. Sie/ wirft ihren weiten Mantel ab, sie/ verjüngt sich mit jedem Meter./ Sie stürzt als Kind in deine/ Arme, bis du sie endlich/ verloren hast.“
Grit Kalies’ unverwechselbare Stimme – ernsthaft-melancholisch, sachlich-konkret und skeptisch-subversiv – äußert sich in den einzelnen Gedichten, die kleinen Inseln gleich mit einem immensen Eigenleben, unterschwellig verbunden sind durch eine widerständige und letztlich doch der Welt zugewandten Sympathie.
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