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Kritik

Über Facebook, Google und andere unlösbare Probleme

Hamburg

Es gibt immer was zu sagen. Sei es am Stammtisch, im Seminarraum, an der Bushaltestelle, sei es durch die Blume, in aller Kürze, unter vier Augen, sei es in einer Besprechung wie dieser, sei es irgendwie irgendwo sonst. Alle haben eine Meinung zu allem, mag das Thema noch so umfassend oder so unscheinbar sein, immer findet sich jemand, der den Hörern ein Licht aufzustecken weiß und das, ohne sich, die Zuhörer oder den Gegenstand darin gänzlich zu erschöpfen. Unterstreicht man diese Meinung schließlich auch noch mit allerlei Daten und Zitaten, stellt man sie am Besten unter die Schirmherrschaft vergangener Größen wie Michel de Montaigne oder Georg Christoph Lichtenberg und beglaubigt man sie mit dem Erfahrungsschatz des eigenen Lebens, lässt sich gleich doppelt so überzeugend über alltägliche Kuriositäten und Probleme der Gegenwart debattieren.

Ein derartiges Kuriositäten- und Gruselkabinett, das »allerhand Abnormitäten, Sensationen und Erfindungen« aufzeigen will, präsentiert nun auch Hans Magnus Enzensberger einmal mehr in seinem, in der Edition Suhrkamp erschienen, Panoptikum. In Zwanzig Zehn-Minuten-Essays versucht er, pointiert »einen flüchtigen Eindruck in das Dunkel« verschiedenster Themen, etwa der Rente, der Wissenschaft als säkulare Religion, dem Common Sense, den Schwierigkeiten ökonomischer Prognosen und gesellschaftlicher Transparenz, sowie etlichen anderen unlösbaren Problemen zu gewähren, ohne sich dabei in allzu genauer Gründlichkeit ergehen zu müssen. Gründlichkeit sei schließlich ohnehin nicht seine Stärke, so Enzensberger in seinem Vorwort, in dem er auch jede Bezüglichkeiten zu Jeremy Bentham, diesem »furchtbare[n] englische[n] Jurist[en], der sich in seiner Freizeit ein ideales Gefängnis« – Panoptikum genannt – ausgedacht hat, verneint. Dass diese dennoch nicht ganz von der Hand zu weisen sind, kann aber auch Enzensberger nicht leugnen, bekommt doch selbst der Aufseher, der in der dunklen Mitte des Gefängnisses sitzt, nur eine bestimmte Auswahl des Häftlingstreibens mit, oder in anderen Worten: das Geschehen liegt doch immer nur in den Augen des Betrachters, der sich allein schon grammatikalisch zu positionieren hat – was nebenher geschieht, könnte zwar beobachtet werden, bleibt währenddessen aber mehr oder minder unbeachtet. Und da der Essay als Form das subjektive, nicht fiktionalisierte Ich ebenso verlangt, vermag Enzensberger, seinen eigenen Blick auch nur auf das zu richten, was ihn selbst gerade beschäftigt und wovon er zu berichten weiß. Teilweise gelingen ihm dabei auch wunderbare Verknüpfungen und Perspektivwechsel, etwa in dem Essay Warum immer alles kleckert, der mit einem Lobgesang auf die Waschmaschine schließt und den Unterschied zwischen Kultur und Natur anhand der jeweiligen Reinheit erläutert, oder in Cosmic Secret, in dem die Gemeinsamkeiten zwischen Geheimdiensten und Kaugummis herausgearbeitet und beleuchtet werden. Doch größtenteils wird man den Eindruck nicht los, Enzensberger versuche, mit moralinsaurer Kunstfertigkeit das eigentliche Problem zu überdecken, nämlich, dass das, worauf sein Blick fällt, nicht unbedingt abnorm, sensationell oder gar originell ist. So zum Beispiel, beschreibt er wieder und wieder soziale Netzwerke als »die kommerziellen Nachfahren jener Melderegister, die seit dem neunzehnten Jahrhundert der Überwachung der Bevölkerung dienen«, und deren hauptsächliches Produkt die Durchleuchtung der Teilnehmer ist. »Diese Einsichten könnte man, statt sie ans Licht zu ziehen, ebensogut mit Schweigen übergehen«, denn dass ein kritischer Umgang mit Facebook, Google und anderen Netzgiganten notwendig ist, steht außer Frage. Dass die Essays dem aber wenig Neues hinzufügen, lässt solche Aussagen ihren Allgemeinplatz einzig weiterhin beibehalten.

Hans Magnus Enzensberger mag also wissen, was sich in der Vergangenheit abspielte, mag einen Überblick über all die geistesgeschichtlichen und historischen Fakten, die Lebenswege wichtiger Persönlichkeiten, all die Statistiken und Mythen, etc. haben, doch geht es in diesen Betrachtungen scheinbar weniger um das, was sich zwischen den einzelnen Augenmerken ereignet, als vielmehr um eine Aufarbeitung dessen, was anderswo bereits verhandelt wurde, oder wie Enzensberger selbst schreibt: »Die Ohnmacht des Mitwissers nimmt mit der Menge der Informationen zu.«

Hans Magnus Enzensberger
Enzensbergers Panoptikum
Zwanzig Zehn-Minuten-Essays
edition suhrkamp
2012 · 141 Seiten · 14,00 Euro
ISBN:
978-3-518069011

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