Herford, Bamberg und die elysischen Gefilde
Die deutsche Literatur ist allemal nicht arm an „Großen Unbekannten“, wenn man darunter jene versteht, noch Zeitgenossen oder schon nicht mehr, denen ein breiterer Leserkreis zu wünschen wäre. Hans Wollschläger dürfte unbedingt zu diesen Erlauchten zählen. Die Übersetzung des „Ulysses“ (1975), seinerzeit als singuläres Ereignis gefeiert, dürfte nach wie vor gültig sein, ebenfalls seine Übertragungen von Edgar Allen Poe; auch seine Herausgaben kritischer Editionen von so unterschiedlichen Autoren wie Karl May und Friedrich Rückert haben sich zumindest unter den Interessierten herumgesprochen. Aber wer hat Wollschlägers Schriften in extenso gelesen, womöglich in der zehnbändigen Ausgabe des Wallstein Verlags die zwar — noch? — keine Vollständigkeit beanspruchen kann, aber immerhin einen, durchaus repräsentativen, Großteil seines Werkes abdeckt?
Hans Wollschläger - Radierung von Eberhard Schlotter Eine Möglichkeit, sich Hans Wollschläger wieder ins Bewußtsein zu rufen, bietet derzeit eine Ausstellung des Museums für Westfälische Literatur in Oelde — oder aber das dazu erschienene Lesebuch, das Michael Girke mit Umsicht & Sachkenntnis zusammengestellt und ergänzt hat durch einen vorzüglichen Essay, der die wesentlichen Aspekte von Wollschlägers Werk umreißt. Nicht die Bücher über „Die bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem“ (1970), die Massentierhaltung und das Tierschutzgesetz („Tiere sehen dich an“, 1987), nicht die Invektiven gegen die Kirche („Die Gegenwart einer Illusion. Reden gegen ein Monstrum“, 1978) oder der Roman „Herzgewächse“ (1982) stehen im Mittelpunkt, sondern die kleinere Form des Essays, die Wollschlägers besondere Stärke darstellt, weil sich in ihr die Substanz in geschliffensten Formulierungen kondensiert hat.
Als Sachwalter der deutschen Sprache hat sich Wollschläger mit verblüffendem – oder unverschämtem? —, jedenfalls nicht geringem Selbstbewußtsein mehrmals selbst bezeichnet. Angesichts sprachlicher und gedanklicher Entgleisungen anderer Autoren, die von ihm mit Genuß zitiert werden und seinem Hohn eine dankbare Angriffsfläche bieten, kann man die Sprachbeherrschung des Polyhistors sicherlich als Maßstab begreifen. Nicht nur der Umgang mit der Sprache, auch das politische Denken & Handeln, des Einzelnen wie des deutschen Staates, entkommt Wollschlägers ätzenden Verdikten nicht — und es ist stets ein Hochgenuß, wenn man liest wie treffend und mutig Hans Wollschläger die Dummheit der politischen Führung des Landes geißelt.
In Michael Girkes Auswahl herrschen jedoch die milderen Töne vor, nicht zu Ungunsten subtilerer Gedanken. Die Erinnerungen des gebürtigen Herforders an seine Heimatstadt eröffnen das Lesebuch; der versierte Biograph blickt auf sich selbst als Studienobjekt und untersucht die Bedingungen, unter denen sein kritisches Bewußtsein entstanden ist, aber auch die Haßliebe zu seiner Heimat. Des Weiteren finden sich Texte über Karl May in Amerika, Arno Schmidt und Wollschlägers Verhältnis zu dem Bargfelder Haiden, zur Resignation im Alter — Wasser auf die Mühlen der Anfechter des Kulturpessimismus! —, zur Biographik Gustav Mahlers, zu Heinrich Bölls Kriegsbriefen und zu Glenn Gould, zur Abrechnung mit dem modernen Theater am Beispiel einer Hebbel-Aufführung usw.
Bislang ungedruckte, nicht in die Werkausgabe aufgenommene Texte sind hier nicht zu finden — was denn wohl auch nicht in der Absicht eines Lesebuchs liegt —, als Einführung in Wollschlägers Werk oder dringende Einladung, sich wieder einmal mit ihm zu befassen, ist Michael Girkes Auswahl jedoch allemal geeignet, denn sie macht ‚Lust auf mehr’.
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