Auf verlorenem Posten
Bereits 2007 hatte Heimo Schwilk seine von Fachkreisen lange erwartete Biographie über Ernst Jünger mit dem bezeichnenden Zusatz „Ein Jahrhundertleben“ veröffentlicht. Die vorliegende Neuausgabe basiert auf dieser Publikation. Allerdings sind die 23 Kapitel um rund fünfzig Seiten erweitert und mit einem aktualisierten Vorwort versehen. Schwilk hat auf eine neue Quellenlage zugreifen können, die es ihm ermöglichte, etwa ausführlicher auf Umstände von Jüngers „Atlantische Fahrt“ nach Brasilien im Jahr 1936, die Vorgänge um die Geiselerschießungen im besetzten Paris oder die Querelen des Spruchkammerverfahrens in der Nachkriegszeit zu beschreiben. Hilfreich waren auch Einsichten in die Briefwechsel mit dem französischen Übersetzer Julien Hervier und vor allem mit Jüngers Ehefrau Gretha. Sie hatte stark darunter gelitten, daß Ernst Jünger während seiner Zeit im Kommandostab des Militärbefehlshabers in Paris jede Menge Gelegenheiten gefunden hatte, sich dem Leben zuzuwenden und es dabei mit der ehelichen Treue nicht immer ganz ernst genommen hatte. Schlimmer noch als die Verfehlungen war für Gretha das Gefühl, daß ihr Mann ihr innerlich zu entgleiten beginnt. Ihre Konfrontation zwingt Jünger zu vollkommen ungewohnten Tönen, wenn er auf ihren Brief antwortet: „Ich kann ihn nicht beantworten, denn ich bin meiner Schuld bewußt, und Du bist der einzige Mensch, dem ich jemals ein solches Eingeständnis gemacht habe“.
Vor allem die frühe aber auch mittlere Schaffensphase Ernst Jüngers sichtet der Biograph Heimo Schwilk in den ersten dreizehn Kapiteln bewußt immer auch im Kontext mit dem familiären Hintergrund Ernst Jüngers. Bereits als Schüler hatte dieser einen Leidensweg absolviert, der ihn lebenslang geprägt hatte. Noch im hohen Alter notiert der weltberühmte Schriftsteller in seinen Tagebüchern zuweilen Alpträume über seine Schulzeit. Eine Unzahl von Versetzungen und Schulwechsel zwangen den Apothekersohn geradezu in eine Rolle als Einzelgänger und Rebell hinein, die ihren vorläufigen Höhepunkt in Ernst Jüngers Flucht zur Fremdenlegion fand. Der dominierende Vater hatte alle Hände voll zu tun, um seinen 18jährigen Sohn wieder auszulösen. Der Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg stellte für Ernst Jünger eine gesellschaftlich anerkannte Möglichkeit dar, sich abseits eingefahrener bürgerlicher Lebenswelten Geltung und Anerkennung zu verschaffen. Bereits in den Fronttagebüchern lassen sich jene für Ernst Jünger typischen Betrachtungsweisen finden, die aus einer Mischung von glasklarer Beobachtung und phantasievoller Überhöhung bestehen und zugleich von Gesten inszenierter Selbstdarstellung nicht frei sind. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte eines ungewöhnlichen und schaffensreichen Lebens sollte Jünger seinen Zauber auf das Lesepublikum ausüben, das gleichsam wie in einem Paktverhältnis zu seinem Autor stand. Zusehends perfektionierte er seinen Schreibstil und entwickelte seinen charakteristischen stereoskopischen Blick, welcher es ermöglicht, „im Sichtbaren das Unsichtbare zu sehen, im jähen Wechsel der Zustände den sie tragenden numinosen Grund“.
Eine breite Darstellung nehmen in Schwilks Biographie Jüngers Kampfschriften und dessen starkes, ja nachgerade aggressives Engagement als nationaler Revolutionär in den 1920er Jahren ein. Schwilk beschönigt hier nichts und zeigt am Beispiel Ernst Jünger, daß die Weimarer Republik keine geliebte Republik war.
Nach der sogenannten Machtergreifung durch Adolf Hitler und seiner nationalsozialistischen Bewegung war es Ernst Jünger wichtig, keinerlei Zweifel bezüglich seiner ablehnenden Haltung aufkommen zu lassen. Bereits im Frühjahr 1933 fand sich die Gestapo in Jüngers Berliner Wohnung zu einer ersten Hausdurchsuchung ein. Bereits Ende der 1920er Jahre hatten die Nationalsozialisten vergeblich Ernst Jünger zur Annahme eines Reichstagsmandats zu bewegen versucht. Die Aufnahme in die bereits „gesäuberte“ »Abteilung für Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste« lehnte Jünger ebenfalls ab und brachte damit ein weiteres Mal Joseph Goebbels, den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, gegen sich auf. Heimno Schwilk hält fest: „Jünger stellt die Korrespondenz mit NS-nahen Autoren wie Schauwecker, Bäumler und Blunck ein, hält aber die Freundschaft zu Carl Schmitt und Ernst Niekisch aufrecht. Und als der Traditionsverband seines Regiments damit beginnt, jüdische Mitglieder zu verstoßen, tritt er mit Friedrich Georg unverzüglich aus“.
In vier Kapiteln nimmt sich Heimo Schwilk Ernst Jüngers Schicksal während des „Dritten Reichs“ an. Jüngers trotzige wie vielsagende Selbstbeschreibung, auf „verlorenem Posten“ zu stehen, wurde in jenen Jahren einer entglittenen Zeit in besonderer Weise auf die Probe gestellt. Dies kommt nicht zuletzt in Jüngers Entsetzen über die Deportation französischer Juden zum Ausdruck: „Gestern wurden in der Stadt große Mengen von Juden verhaftet, um deportiert zu werden – man trennte die Eltern zunächst von ihren Kindern, so daß das Jammern in den Straßen zu hören war. Ich darf nie, in keinem Augenblick vergessen, daß ich von Unglücklichen, von bis in das Tiefste Leidenden umgeben bin. Was wäre ich sonst auch für ein Mensch, was für ein Offizier“.
Die beschwerlichen Nachkriegszeiten, aber auch Jüngers Erfolge nach Aufhebung der Veröffentlichungsverbote, seine zahlreichen Reisen bis weit in das hohe Alter, wie auch seine Auszeichnungen und internationale Anerkennung werden in den abschließenden sieben Kapiteln abgehandelt. Stichworte wie „Waldgänger“ und „Anarch“, die Ernst Jüngers Entwicklung seit den 1950er Jahren kennzeichnen, hatten ihn an den Rand des überhaupt Sagbaren geführt. Zwei Weltkriege sowie die Raserei totalitärer Ideologien hatten Ernst Jünger hellsichtig gemacht in seinen Versuchen, menschliches Elend beschreibend zu ertragen. Er war davon überzeugt, daß kein Leiden sinnlos ist, ohne dieses jedoch, wie ihm oft unterstellt wurde, einseitig zu verherrlichen.
Heimo Schwilk, der Jünger persönlich gekannt und wiederholt in seinem Haus im oberschwäbischen Wilflingen besucht hatte, ist mit der packenden Beschreibung von Ernst Jüngers Biographie zugleich eine Art Geschichtsbuch gelungen. Kein Wunder bei einem Schriftsteller, der in acht Jahrzehnten als Autor publiziert und hellwacher Zeitzeuge eines furchtbaren und widersprüchlichen Jahrhunderts war.
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