Kaffee statt LSD
Als die Gruppe 47 1966 in die USA fuhr, um in Princeton ihre Jahrestagung abzuhalten, sprach dort der amerikanische Beatlyriker Allen Ginsberg darüber, inwiefern LSD die Politik beeinflusse, worauf Günther Grass antwortete, er begnüge sich mit Kaffee. Zum Zeitpunkt dieser Episode zeichnete sich bereits das Ende der Gruppe nur ein Jahr später ab.
Zwanzig Jahre dominierte die von Hans Werner Richter im Ostallgäu am Bannwaldsee gegründete Gruppe den literarischen Diskurs der Bundesrepublik und Helmut Böttiger folgt ihrer Entwicklung entsprechend dem Untertitel seiner Darstellung: „Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb.“
Die Gruppe 47 entwickelte sich mit ihren literarischen Ansätzen bald als Widersacherin von Autoren wie beispielsweise Hans Carossa oder Werner Bergengruen, die nach dem Krieg noch die Meinung vertraten, die deutsche „Hochkultur“, habe die Nazizeit unbeschädigt überstanden. Dem entgegnete die aus dem Krieg zurückgekehrte „Landsergeneration“ um Gruppengründer Hans Werner Richter, Alfred Andersch oder Günther Eich mit ihrer neuen realistischen Schreibweise und der Idee einer Kahlschlagliteratur, die Altes abstreifen und nach vorne blicken müsse.
Die Gruppe 47 war von Beginn an heterogen und bei Tagungen standen immer wieder andere Autoren im Fokus der Aufmerksamkeit. So bietet es sich für Helmut Böttiger an, die literarische Entwicklung der Gruppe sowie ihre zunehmende kulturpolitische Bedeutung anhand der verschiedenen Tagungen darzustellen. Dabei wird nicht nur sehr detailliert der jeweilige Ablauf mit seinen Diskussionen, Lobpreisungen und Verrissen beschrieben, sondern Böttiger portraitiert in diesem Zusammenhang alle wichtigen Teilnehmer mit ihren literarischen und biografischen Hintergründen, auch Autoren, die wie der früh verstorbene Nicolas Born, im Literaturbetrieb nur eine kurze Rolle spielten.
Einzelne Autoren wurden bald berühmt. Als Erster wäre Günther Grass zu nennen, den Richter beim Zusammentreffen 1955 noch aus dem Saal verweisen wollte, weil er „desperat und wie ein bettelnder Zigeuner“ ausgesehen hatte. Doch Grass avancierte mit seinen Roman Blechtrommel 1959 zum Star der Gruppe 47 und trug viel zu deren Wahrnehmung bei.
Zu dem realistischen Duktus der Gründergeneration kamen bald andere Tonlagen. Dazu zählten in erster Linie Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Peter Weiss, Reinhard Lettau, Alexander Kluge, Peter O. Chotjewitz kamen später mit wieder anderen Vorstellungen von Sprache und Literatur dazu.
Sicherlich ist es kein Zufall, dass auf dem Buchumschlag auch Fotos von Hans Magnus Enzensberger und Peter Handke zu sehen sind, denn für Böttiger sind sie die besten Beispiele dafür, wie Autoren das zunehmende Medieninteresse an der Gruppe für eigene Vorteile nutzten. Das Entstehen eines Literaturmarktes und der kontinuierlich größer werdende Einfluss der Medien sind unmittelbar mit der Geschichte der Gruppe 47 verbunden und auch dieser Aspekt wird von Böttiger ausführlich beschrieben. Die ersten Tagungen waren noch intime Angelegenheiten in einem geschützten Raum „unter Freunden“, wie Richter gern betonte. Der lesende Autor saß auf dem „elektrischen Stuhl“ neben Richter, der anschließend um Wortmeldungen zu dem Text bat. Wurde der Text von den Kollegen ungnädig aufgenommen, war es für den Vortragenden noch kein absoluter Beinbruch, sondern sollte Ansporn sein, den Text zu verbessern. Dies änderte sich schlagartig, als Richter dazu überging, Verleger, Kritiker, später den Hörfunk und noch später das Fernsehen zu den Tagungen einzuladen.
Nun konnte eine Lesung für den Autor unter Umständen einen Verlagsvertrag bedeuten oder auch nicht, je nachdem wie die Kritiker seinen Vortag aufnahmen. Dies bot einerseits große Chancen für junge unbekannte Autoren, andererseits beschreibt Böttiger, wie die Spontaneität der Anfänge immer mehr kalkulierten Auftritten gewichen ist. Als eindringlichstes Beispiel nennt er dabei den inszenierten Auftritt des 24-jährigen Peter Handke, der wie Böttiger urteilt, „die Mechanismen der Gruppe 47 und das Spiel mit den Medien ausgiebig studiert hatte.“ Er meldete sich nach der Lesung von Hermann Peter Piwitt und sagte die „legendär gewordenen Worte“, die überhaupt nicht auf Piwitts Text bezogen waren, sondern die er „von zu Hause mitgebracht“ hat: „Ich bemerke, dass in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz vorherrscht.“ Für Böttiger bedeutet dieser Auftritt die Geburt einer deutschen Popkultur aus dem Geist der Gruppe 47“, denn Handke sei innerhalb von drei Minuten zu einem „Markenzeichen“ geworden. Tatsächlich war es so, dass Handke nach dem Erfolg seiner „Publikumsbeschimpfung“ ausreichend berühmt geworden war und er die Gruppe 47 nicht mehr brauchte.
Die Geschichte der Gruppe 47 bliebe unvollständig, ohne festzuhalten, dass mit ihr auch bestimmte Literaturkritiker bekannt geworden sind. Marcel Reich Ranicki, Hans Mayer, Walter Höllerer und Joachim Kaiser saßen bei Tagungen ab den Fünfziger Jahren in der ersten Reihe. Sie hatten die Gruppe 47 als „idealen Ort“ erkannt, „sich auf dem literarischen Markt zu positionieren“. Ein ganzes Kapitel widmet Böttiger diesem Thema und zitiert in diesem Zusammenhang Martin Walser, der in einem „Brief an einen ganz jungen Autor“, ironisch darlegt, wie die „Protagonisten aus der ersten Reihe“ sich selbst auf Kosten der Autoren in Szene setzten. „Du kannst dich nicht darauf verlassen dass er (Jens) das Gegenteil von dem behauptet, was Höllerer gesagt hat.“ Für Böttiger ist Walsers Text einer der besten, die der Autor jemals geschrieben hat. Wie sich die Kritiker die Bälle zuspielten, kann man an einer Äußerung von Walter Jens sehen, der sich nach Höllerer zu Wort meldete: „Also, ich glaube den Text etwas verstanden zu haben, während ich Walter Hölleres Rede überhaupt nicht verstanden habe.“
Böttiger führt viele Gründe an, weshalb sich die Gruppe 47 auflöste. Manchen Autoren war der Medienrummel zu groß geworden (Heinrich Böll), andere fühlten sich als Gruppenmitglied vereinnahmt (Martin Walser) wieder andere brauchten deren Unterstützung nicht mehr (Peter Handke). Dies sind nur Beispiele für eine Entwicklung, die von den heftigen politischen Auseinandersetzungen der Sechziger Jahre beeinflusst war. Der Vietnamkrieg radikalisierte auch viele Schriftsteller, für die die USA Reise als „Sündenfall schlechthin“ galt (Heinrich Böll). Gleichzeitig war die Gruppe 47 zur „herrschenden literarischen Klasse“ geworden und dementsprechend auch von links in Frage gestellt worden.
„Die Gruppe 47“, so bilanziert Helmut Böttiger, „spiegelt nicht einfach den Demokratisierungsprozess der Bundesrepublik wider, sie war ein erheblicher Teil davon.“
Dies ist das Spannende an der Darstellung, dass es Böttiger gelingt, das politische und kulturelle Klima der Nachkriegszeit bis in die Sechziger Jahren mit der literarischen Entwicklung zu verbinden und dabei den Zusammenhang von gesellschaftlichen Veränderungen und ästhetischen Überlegungen zu beschreiben.
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