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Kritik

Das lyrische Gesamtwerk eines bekannten Unbekannten

Bekannt geworden ist H.G. Adler durch seine Berichte aus Theresienstadt, Auschwitz und Niederorschel, einem Nebenlager von Buchenwald. Sein 1955 erstmals publiziertes Buch „Theresienstadt 1941–1945, das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft“ gilt als Standardwerk der Holocaust-Forschung. Aus einer deutschjüdischen Prager Familie stammend, 1910 in Prag geboren, wo er auch studierte, überlebte er als einziger seiner Familie den Holocaust. 1947 emigrierte H.G. Adler nach London, wo er 1988 verstarb. Sich selbst definierte er 1981 als „deutscher Schriftsteller jüdischer Nation, der aus der Tschechoslowakei kommt, dem österreichschen Kulturkreis angehört und loyaler britischer Staatsbürger ist.“ Nach seiner Befreiung aus dem KZ kürzte Adler seine beiden Vornamen Hans Günther zu H.G. ab, um sich von den SS-Sturmbannführer gleichen Namens zu distanzieren.

Bekannt und befreundet mit Erich Fried, Elias Canetti, Ilse Aichinger, Michael Hamburger, Ingeborg Bachmann, Helmut Heissenbüttel, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, hat H.G. Adler zeitlebens wenige Gedichte publiziert, in kleinen Verlagen und kleinen Auflagen. Dennoch war sein lyrisches Werk über 60 Jahre hindurch ebenso beständig wie konsequent.
In dem vorliegenden, umfangreichen Buch mit fast 1200 Seiten sind etwa 1200 Gedichte nun erstmals veröffentlicht worden. Man denkt an das Werk von Theodor Kramer, jedoch unterscheiden sich Melodie und Duktus dieser beiden Dichter. Bei Adler waren es Gedichte, die ihm seinen Lebenswillen gaben und ihn nicht an den Qualen des KZ zerbrechen ließen.

Neun Kapitel umfasst das Buch, beginnend bei den Gedichten aus der Jugendzeit (1927–1932), in denen dem Dichter Landschaften und Jahreszeiten als Themen dienten; den frühen Gedichten (1934–1940). Der dritte Teil umfasst Gedichte aus der Lagerzeit (1942–1945), äußerst eindringliche Bilder, die den Leser mit hinein in das unfassbare Geschehen ziehen: Schutt und Bruch zerstampfen das Leben / Mit klaffenden Kerben bestrickter Gewalt; / Wandernd möchte das Herz hier entschweben, / Doch haftet die Seele, von Klammern umkrallt. Von der Ermordung seiner Frau Gertrud erfuhr Adler erst später, widmet Geraldine beklemmend optimistische Gedichte, zusammengefasst in dem Zyklus „Zuversicht“. Fern sein, so nahe im gleichen Gezelt / Und dennoch gebannt in trennender Kälte; / Geliebte, traure drum nicht und lächle / Dem Morgen vertrauend entgegen! Der Dichter klammert sich an die Liebe: Allein die Liebe baut sich Brücken, / Besiegt der Einsamkeiten Angst und Qual.

Der vierte Teil umfasst Gedichte aus der Nachkriegszeit (1945–1946): Nun ist es überwunden – und, was ist geschehen? / Nichts. Die Krankheit sickert garstig durch das Blut. / Nichts ist geschehen. Nichts. Des Bösen schwarze Brut / Verwirkt nur Zeit. Die Zeit kann wohl vorübergehen. Mit seiner Poesie wendet sich Adler gegen das Verdikt von Theodor Adorno, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ Für Adler ist es nicht nur ein Muss, vielmehr eine Überlebensstrategie, an der Poesie festzuhalten. Eine Aktentasche mit seinen Gedichten hatte er vor seiner Deportation nach Auschwitz dem ebenfalls in Theresienstadt inhaftierten liberalen Rabbiner Leo Baeck übergeben, die ihm Baeck nach der Befreiung zurückerstattete.

Die Kapitel fünf bis neun enthalten Gedichte aus England, von seiner Emigration bis knapp vor seinem Tod. Adlers Gedichte sind formal präzis gebaut, weitgehend hält sich der Autor an konventionelle Strukturen, oftmals bevorzugt er das Sonett. Erst in den späten 1970er Jahren lässt er sich auf freiere Formen ein, bis er schließlich in seinen letzten Gedichten zu einer fast epischen Poetik findet. Intensiv in ihrer Kraft, bleibt „das Erlebnis von Verfolgung und moralischer Anfechtung, Gefangenschaft und Mord die treibende Kraft in Adlers Lyrik“, stellt Katrin Kohl in ihrem Nachwort fest. Gewalt und Schuld, Anklage und Trauer durchziehen Adlers Gedichte, die nun erstmals in ihrer Gesamtheit vorliegen, genau so, wie sie der Dichter zusammengestellt und zum Druck vorgesehen hat.

Fazit: Eine verlegerische Meisterleistung bietet die Möglichkeit, einen bekannten unbekannten Dichter kennenzulernen.

H.G. Adler · Katrin Kohl (Hg.) · Franz Hochender (Hg.)
Andere Wege
Mitwirkung: Jeremy Adler, Geleitwort: Michael Krüger
Drava
2010 · 1198 Seiten · 49,80 Euro
ISBN:
978-3-854356257
Erstveröffentlicht: 
Buchkultur

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