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Kritik

Indianer in St. Petersburg

Hamburg

Die Reihe P des Wunderhornverlags ist eine sichere Bank. Bei Interesse an internationaler Poesie kann man hier geradezu blind zugreifen und landet einen Treffer. Jetzt erschien ein Bändchen mit Texten des Russen Igor Bulatovsky.


Quelle: Verlag Das Wunderhorn

Bei der Lektüre dieses Buches gehen mir einige Dinge durch den Kopf, vor allem aber verspürte ich plötzlich eine gewisse Dankbarkeit meiner Russischlehrerin Frau Rotstein gegenüber, die mir, der ich beim Erlernen von Sprachen vollkommen untalentiert (faul) war, dennoch einige Grundlagen aufnötigte, ein Sprachvermögen, das  ich langsam auszubauen beginne, und das mich in die Lage versetzt, die russischen Originale im Buch, wenn nicht zu verstehen, so doch wenigstens zu lesen. Laut zu lesen!

Diese russischen Texte haben nämlich einen Reim, einen Endreim (fast undenkbar, bei einer Sammlung aktueller deutscher Texte, die nicht auf Witzigkeit abzielen, schade eigentlich) das führt dazu, dass beim rezitieren der Bulatovskyschen Gedichte so etwas wie ein Rausch entsteht, man fürchtet das nächste Reimwort und freut sich gleichzeitig darauf.

Bulatovsky wurde 1971 in Leningrad geboren, er entstammt also mehr oder weniger meiner Generation, die sich mühsam aus dem Sozialismus herausgraben musste. Und seine Gedichte zeitigen einen merkwürdigen Effekt. Sie sind, obgleich gereimt, sehr zeitgemäß und verstecken dennoch nicht ihre Herkunft, und diese ist Petersburg oder Leningrad oder Petrograd wie die Stadt auch eine Zeitlang hieß. Oleg Jurjew schreibt in seinem Nachwort über diese Zusammenhänge.

Aus meiner Sicht wäre dazu zu sagen, dass ich, der ich mich in letzter Zeit mit verschiedenen Produktionen Petersburger Autoren konfrontiert sah (Vvedensky, Waginow, Marienhof, Jurjew, Martynova et al.) langsam zu verstehen beginne, dass diese Stadt etwas ganz Besonderes hervorbringt, ohne dass ich dieses Besondere formalisieren könnte. Vielleicht hat sich in den Gebäuden der Stadt, aber das sei nur Hypothese, etwas von einem vorrevolutionären Geist erhalten, der Sowjetherrschaft und deutscher Belagerung trotzte, der dialektisch aus einem gewissen Konservatismus heraus in Modernität umschlug.

Spürbar meiner Meinung nach in Bulatovskys Band die anhaltende Wirkung der Oberiuten. Dieses unbezähmbare Spiel mit der Sprache, das vor dem Sinn nicht halt macht, sich ihm nicht unterwirft und dann doch in einer Form des Reimes gerinnt, dessen Zwangsläufigkeit die Freiheit des Spiels unterstreicht. Man muss das lesen.

Als Beispiel sei hier ein Gedicht erwähnt, in dem der letzte Mohikaner, jener Friedensengel Coopers sich durch ein Petersburger Geäst schwingt. Das Gedicht hat keinen Titel:

***
am Ast (wie am Reck)
schaukelt ohne Arme,
ohne Beine im sanften Wind
ein purpurner Chingachgook.
Hängt der karmesinrote Wurm
abends am Ast,
sein Schwanz, ein Scharlachstrumpf
raschelt im Gebüsch …
(Diese Ballade hat keinen Sinn, aber
was ist da denn für ein Zeug? 
Vermutlich bloß Kugeln,

Laternen aus Papier.)

übersetzt von Gregor Laschen und Daniel Jurjew

Ich habe dieses Gedicht aus der Überfülle des Bandes natürlich ausgewählt, weil mich das plötzliche Auftauchen des Indianers zu plötzlichen Jubelstürmen hinriss. Ein Freund Lederstrumpfs, dieses gerechtesten aller Waldläufer, hängt plötzlich als Lampion in einem Petersburger Baum. Was will man mehr. Und der Band ist voll von solchen Texten.

Laschen, Jurjew, Martynova, Erb, das ist die Übersetzerbrigade, welche die Texte in wechselnden Konstellationen ins Deutsche gebracht hat. Bewährt hat sich diese Kompanie schon bei der Übersetzung des grandiosen Jurjewbandes, der im Frühjahr bei Jung und Jung erschien. Dennoch würde ich jedem Leser raten, sich der Mühe zu unterziehen und die kyrillischen Schriftzeichen entziffern zu lernen. Ja, Frau Rotstein, Sie hatten Recht, es lohnt sich.

Igor Bulatovsky
Längs und Quer
Übersetzung:
Elke Erb, Daniel Jurjew, u.a.
Nachwort: Oleg Jurjew
Verlag Das Wunderhorn
2012 · 94 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-884234099

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