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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Warum das Subjektive eine größere Tiefenschärfe hat

John Jeremiah Sullivan zeigt nicht das Ende Amerikas, sondern die Grundbedingungen guter Reportagen.
Hamburg

Die unter dem Titel Pulp Head versammelten, zwischen 1999 und 2001 entstandenen Reportagen, des 1974 in Kentucky geborenen John Jeremiah Sullivan, der u.a. für The New York Times Magazine, Harpers Magazine und The Paris Review arbeitet, und bereits mehrere bedeutende Preise für seine Arbeit gewonnen hat, wurde hierzulande ungeduldig erwartet und wird seit seinem Erscheinen 2012, euphorisch gelobt.

Pulphead ist die beste und wichtigste Sammlung von Magazinjournalismus seit David Foster Wallaces 'A Supposedly Fun Thing I'll Never Do Again' schrieb die "New York Times Book Review", zitiert Hannah Pilarczyk in Spiegel online.

Was ist das Außergewöhnliche an dieser Sammlung von Reportagen, die auch das deutsche Feuilleton derart bejubelt?

Sicher nicht nur, aber doch zu einem beträchtlichen Teil, liegt das an der Andersartigkeit von Sullivans Reportagen, die ganz einfach um Längen unterhaltsamer und fesselnder sind, als ihre deutschen Äquivalente.

Aber worin besteht diese Andersartigkeit, was macht den besonderen Reiz von Sullivans Reportagen aus?

Da ist zunächst einmal das „Ich“, das Sullivan in keiner seiner Reportagen scheut, die direkte Ansprache an den Leser, das offensichtlich Subjektive, das auffällt, wenn man den Vergleich mit deutschen Reportagen macht, die nüchterner sind, immer darum bemüht, objektiv zu sein.

Dabei kommt es mir nach der Lektüre von Sullivans Texten vor, als sei gerade das Persönliche der Königsweg zum Allgemeinen. Im Puzzleteil des biografischen Details, in der Nahaufnahme aus subjektiv beschränkter Perspektive, ergibt sich ein Zugang zum großen Bild. Deutlich und viel beklemmender als bei einer neutralen, objektiven Reportage, weil da einer die Dinge wirklich an sich heran gelassen hat, statt sie aus professioneller Distanz zu beobachten. Da ist zum Beispiel die Reportage über den Miz, einen Star aus einer dem hiesigen Big Brother Format vergleichbaren Serie. Während Sullivan ganz nah beim Miz bleibt, ihn einen Abend lang begleitet, und seinen Geschichten zuhört, entsteht ganz nebenbei ein Essay darüber, wie derartige Serien die Wirklichkeit ebenso sehr abbilden, wie sie sie angeblich verändern.

„Bei Gott in Realityshows sind mehr Tränen vergossen worden als von sämtlichen Kriegerwitwen dieser Erde. Sind wir so dünnhäutig, so verletzlich? Muss wohl so sein. Es gibt einfach zu viele von ihnen, zu viele Sendungen und zu viele Leute in diesen Sendungen, als dass sie uns nicht etwas Grundlegendes über uns selbst verraten würden. Das sind wir: ein Volk gefühlsduseliger Barbaren, weinend und Gewichte stemmend.“

Das ist es, in den Geschichten der von Sullivan porträtierten Menschen spiegelt sich immer auch die ganze Geschichte Amerikas. Der einzelne ist Teil des Ganzen, das Ganze setzt sich zusammen aus diesen Einzelnen, die Sullivan sehr genau, voller Neugierde statt voller Vorurteile betrachtet.

Egal ob es um ein Christrock Festival geht, um den Kern der Wirklichkeit, der sich durch die Anwesenheit von Fernsehteams im eigenen Haus merklich verändert, um Axl Rose, den letzten der Wailers, Michael Jackson oder merkwürdige Naturforscher; Sullivan schreibt keine Geschichten über Menschen und Begebenheiten sondern darüber, wie er diese Geschichten mit ihnen erlebt. Es ist diese besondere Unmittelbarkeit, Direktheit und persönliche Involviertheit, die das Besondere und das besonders Glaubwürdige der Geschichten ausmacht.

Sullivan scheint sich für alles zu interessieren. In seinen Reportagen geht es um Musik,  um den Glauben in seinen verschiedenen Ausformungen, es geht um Reality Shows und Wirklichkeit, ebenso wie um Disneyland und die Tea Party Bewegung, um Krankenversicherungen, um Naturforscher, Nahtoderlebnisse und Naturkatastrophen, es geht um einzelne Menschen und es geht um diesen merkwürdigen, widersprüchlichen Kontinent: Amerika. Denn das ist noch eine Sache, die Sullivan meisterhaft beherrscht, die kleinen, persönlichen Geschichten und Beobachtungen immer wieder in das große Ganze zu betten. In einer seiner Reportagen, über einen Höhlenforscher, schreibt Sullivan: „Das Auge löst sich vom Wunsch nach Bedeutung, und die Bilder treten hervor. Simek zeigte mir die Seiten Mallerys, um mir zu demonstrieren, wie gefährlich es ist, etwas zu lesen, das man gar nicht lesen kann. Und wir können nicht lesen.

Versuch erst mal, es zu sehen. Das ist schwer genug.“ Und das ist genau das, was er tut. Er versucht erst mal, es zu sehen.

Bei Sullivans Reportagen hatte ich durchgehend das Gefühl, da erzählt einer von Mensch zu Mensch. Was ich damit sagen will: es gibt kaum eine Distanz zwischen Leser und Erzähler. Sullivan erhebt sich nicht über diejenigen, über die er berichtet, und somit auch nicht über die, die seine Reportagen lesen, er schreibt auf Augenhöhe. Vielleicht ist es dieser Respekt, der zugleich neugierig macht und Vertrauen entstehen lässt und möglicherweise ein weiterer Schlüssel ist, für das Paradox, dass es gerade die Länge der Reportagen ist, die sie so kurzweilig machen. Wie kann das sein?

Ich glaube, es liegt daran, dass Sullivan sich nicht auf Fakten beschränkt, sondern Geschichten erzählt, dass er sich erlaubt ausschweifend zu sein und persönlich, genau das, was ein Reporter sich normalerweise zu tun verbietet, und auf diese Weise sind Sullivans Reportagen voller Gefühle, Stimmungen, Dialoge, kurz: voller Lebendigkeit. Seltsamerweise geht es aber dennoch um die „Sache“ und nicht um ein Ego. Die Kunst von John Jeremiah Sullivan liegt darin, die Fakten ebenso wenig aus den Augen zu verlieren, wie den Spaß, Geschichten zu erzählen.

Was das alles mit dem Ende Amerikas zu tun hat, wie es der deutsche Untertitel nahelegt, habe ich nicht herausfinden können. Aber sollten Sie jetzt versuchen, dieses Rätsel durch die Lektüre von Pulp Head zu lösen, verspreche ich Ihnen eine Menge faktenreichen und unterhaltsamen Lesespaß.

John Jeremiah Sullivan
Pulphead
Vom Ende Amerikas
Übersetzung:
Thomas Pletzinger und Kirsten Riesselmann
Suhrkamp
2013 · 416 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-518-06890-8

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