Hirnrisse als Portale
Es gibt wenige Bücher, die es sich empfiehlt mit einem Messer in der Hand zu lesen. Oder zumindest einem leidlich scharfen Papierschneider. „Faunenschnitt“ ist eines davon: es leuchten einem nämlich nicht nur die von Joshua Groß erdachten Sätze in psychedelischem Rot entgegen, sondern ebenso diverse in Schmetterlingsbindung eingefügte Fotografien von Hannah Gebauer. Bzw. vielmehr – sieht man von Gewaltanwendungen gegens Papier ab – deren Rückseiten. Sollte man die Bilder lieber in ihren Verstecken belassen? Ganz offensichtlich ist diese Bindung, die mehr verhüllt als zeigt, ja absichtlich gewählt. Ein interessanter Schachzug jedenfalls, die Leser_innen alle paar Seiten erneut vor die Entscheidung zu stellen: Mysterium oder Destruktion?
Letztendlich entspricht dieses Hin- und Hergerissensein ziemlich exakt der „diffusen Epoche“, durch die der Ich-Erzähler mäandert. Schon die in postmoderner Lässigkeit nebeneinander gestellten Zitate von Ernst Jünger und Jay-Z, die das Buch eröffnen, lassen erahnen: Egal, von welcher Richtung her man den Plot zu erzählen versucht, eine Zusammenfassung klänge immer nach Klamauk. In dieser Hinsicht steht „Faunenschnitt“ Groß‘ aberwitziger Roadnovelle „Magische Rosinen“ (2014) in nichts nach.
Erstaunlich schnell jedoch kommen einem märchenhaft zusammenfabulierte Rückblenden, aus dem Nichts heraus abstürzende Segelflugzeuge oder Sätze wie „Dann kam eine Frau und schenkte mir einen beigen Hund“ völlig plausibel vor – und genau darin liegt die Kunst des 1989 in Grünsberg (bei Nürnberg) geborenen Autors, der für sein erstaunlich umfangreiches Werk bereits mit einigen Auszeichnungen bedacht wurde: Er schafft es, seine Leser_innen binnen weniger Seiten in eine leicht verschobene Parallelwelt hineinzuziehen, die zwar immer wieder reale Anknüpfungspunkte findet, über weite Strecken jedoch gemäß einer schwer ergründlichen Traumlogik funktioniert.
Hier die nackten Fakten: Groß‘ Alter Ego Frank reist ins Salzkammergut an den Grundlsee, um für seinen Verleger Bruno und dessen Frau Karmen, eine „einflussreichen Psychologin“, den Detektiv zu spielen. Wie sich herausstellt, wurde bei den beiden eingebrochen und ein halbes Kilo Arung (ein halluzinogenes Kraut) geklaut, auf dessen Wiederbeschaffung Bruno jedoch bereits einen desertierten Elitesoldaten aus Afghanistan angesetzt hat. Damit ist die Anwesenheit des Erzählers eigentlich überflüssig, wie dieser selbst anmerkt. Er bleibt aber trotzdem.
Am See begegnet ihm ein Tretbootvermieter, der behauptet, sein Vater sei im Zweiten Weltkrieg als britischer Soldat in die Gegend gekommen, um Hitlers im Salzstollen eingelagerte Raubkunst zu retten. Etwas später trifft Frank auf eine wunderschöne blonde Frau, die aussieht wie
ein Sonett aus schwebenden Seifenblasen.
Nebenbei stürzt ein Segelflugzeug in den Grundlsee, ein Paket mit einer geklauten Dalí-Statue trifft ein, und eine Kaffeemaschine wird rituell verbrannt. Außerdem beginnt sich Frank intensiv mit den möglicherweise fingierten Briefen des möglicherweise fingierten Schriftstellers Miloš Ru Novalsky zu befassen. Und natürlich mit seinem neuen Weggefährten, dem beigen Hund, der sich anfühlt wie ein „Werwolf-Milchbrötchen“ und den er kurzerhand nach dem mysteriösen Dichter benennt.
Wie gesagt: Klingt alles ziemlich trashig. Ein bisschen Thriller, ein bisschen „Monuments Men“, etwas Heimatroman, etwas Drogenrausch, ein Schuss Romanze. Dass der verworrene Plot allerdings durchaus mit Sinn und Verstand ersonnen wurde, darauf verweisen schon die poetisch-abgründigen Analogien, die Groß immer wieder einflicht.
Meine Lippen bebten wie betäubte Halluzinationen
heißt es da,
Die Sonne lag dem Gras im Nacken
oder
Der Kies schäumte röchelnd.
In ihrem Zusammenwirken erzeugen die auf den ersten Blick humoristischen Sprachspielereien ein Gefühl, als könne das sommerliche Flirren über dem Tal jeden Moment zerreißen, um einen dahinter liegenden „finsteren Kern“, eine „Hohlwelt“ zu enthüllen. Tatsächlich äußert Frank wiederholt die Vermutung, unter dem Grundlsee, der in seiner Omnipräsenz selbst als ständig changierende Metapher fungiert, könnten sich weitere, unterirdische Seen befinden – eine Idee, die unter anderem an Italo Calvinos „Die unsichtbaren Städte“ erinnert:
Eine unsichtbare Landschaft konditioniert die sichtbare.
Mehr und mehr erscheint die Realität durch eine diffuse Bedrohung verschleiert, die sich nur in bestimmten Momenten offenbart. So ergreift den Erzähler, als er durchs Fenster in das leere Haus von Bruno und Karmen starrt, eine Ahnung,
als wäre der gelöste Dynamo des Tages, der alles in endlose Helligkeit hüllte, hier drinnen umgestülpt.
Und Bruno mutmaßt, unter dem bewusstseinserweiternden Einfluss einer Arungzigarette:
Es ist, als wäre der Einbruch nur der Ausschuss einer Realität gewesen, die sich weigert, uns mit dem Unheimlichen zu konfrontieren.
Beständig kratzt Groß an der äußerlich sichtbaren Realität; beständig ist sein Ich-Erzähler bestrebt, unter die Oberfläche zu dringen, um den Dingen ihr zweites, drittes, viertes Gesicht abzuringen:
Innerlich versuchte ich, meine Hirnrisse als Portale zu nutzen, versuchte, auf eine andere Seite zu gelangen, um mir irgendwann die Wunden von der Stirn wischen zu können.
Manchen mag dieser rauschhaft-spirituelle Tonfall ein bisschen zu abgehoben klingen. Doch erfreulicherweise nehmen sich weder der Autor noch sein Erzähler mit ihren Vorstößen in unbekannte Hirnregionen allzu ernst. (Neben dem Briefkonvolut von Miloš Ru Novalsky liest Frank ganz gerne auch mal ein paar „Lustige Taschenbücher“.) Ohne den mystischen Unterstrom des Textes je ganz aus den Augen zu verlieren, entwirft Groß eine erfrischend respektlose Melange aus Hoch- und Popkultur, Politik- und Literaturkritik. Und stellt – so schräg seine Bilder bisweilen auch anmuten mögen – einige ziemlich zutreffende Zeitgeistdiagnosen. Während Bruno und Karmen obsessiv Roland Kaiser hören, ergötzt sich Frank an Rappern wie Curren$y oder Boosie Badazz – und schaut man sich die Lyrics sämtlicher genannter Interpreten einmal an, muss man sagen, dass sie dem Flow von „Faunenschnitt“ durchaus entsprechen.
Neben allem Stochern im Unbewussten hat Groß auch noch ein paar bitterböse Kommentare zum aktuellen politischen Geschehen auf Lager: So befindet sich unter Karmens Patient_innen nicht nur der straffällig gewordene ehemalige Manager Thomas Middelhoff, sondern auch die Vorsitzende einer konterrevolutionären Untergrundbewegung namens „Das Merkel’sche Kreuz“.
Auch Thomas Pynchons „Die Enden der Parabel“ bekommt einen kurzen Auftritt – schließlich enthält „Faunenschnitt“ selbst das ein oder andere pynchoneske Element. Gleich Gebauers Farbfotografien schimmern (reale wie fiktive) vergangene Ereignisse durchs Jetzt, sei es in Form einer bissigen Muräne, die sich Frank im letzten Italienurlaub einfing, oder in Form von Waggons voller Nazi-Raubkunst, die seit über 70 Jahren als geisterhafte Kolonne von Paris nach Neuschwanstein rollen. Die Möglichkeit einer parallelen Geschichtsschreibung, in der sich die Zeit nicht eindimensional und linear voranbewegt, ist stets Teil des Groß‘schen Raum-Zeit-Kontinuums. Utopische Stränge verschlingen sich mit einem apokalyptischen Hintergrundrauschen, auf das bereits der Titel verweist: Der Begriff „Faunenschnitt“ bezeichnet ein massenhaftes Artensterben, das erdgeschichtlich gesehen mehr oder minder ausgeprägt an einzelnen stattfand. Auch hier sind also wieder die Transgressionen und Brüche interessant – auch wenn (oder gerade weil) sie mit Zerstörung einhergehen.
Nach über einem halben Jahrhundert löst endlich mal wieder ein Literat das ein, was die Beatniks in den 1950ern versprachen: Mit Sprache unsere Wahrnehmung umstülpen, mittels Literatur Bewusstseinstüren öffnen. Und damit lässt sich über „Faunenschnitt“ so ungefähr das behaupten, was Frank an Curren$ys Cigarette Boats EP so hoch schätzt:
Sie klingt, wie die deutsche Gegenwartsliteratur nie klingen wird.
Wer genug hat vom Einheitsbrei realistisch erzählter Befindlichkeitsprosa, muss aber nicht zwangsläufig Hip Hop hören – er oder sie kann auch einfach Joshua Groß lesen.
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