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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Überlebenskampf vor der Haustür

Juan S. Guses vielversprechender Debütroman zeichnet eine erschreckend realistische Dystopie.
Hamburg

Als Pelusa einmal mit den Kindern die Gated Community verlässt, um in den Zoo zu fahren, bietet sich ihnen dort ein bizarres Schauspiel: Eine Anakonda ist dabei, sich selbst zu verschlingen. Egal, wie sehr die Wärter an beiden Enden zerren, es gelingt ihnen nicht, das Tier aus sich selbst zu befreien.

Für das Schicksal der unglücklichen Schlange gibt es vermutlich eine einfache Erklärung: In künstlichen Habitaten gerät bei zu großer Hitze der Stoffwechsel der Kaltblüter durcheinander – sie entwickeln einen unbändigen Hunger und beginnen im Extremfall auch schon mal, sich selbst zu fressen. Mit den Figuren in Juan S. Guses Debütroman „Lärm und Wälder“ verhält es sich ein wenig komplexer. Dennoch könnte man sagen: Auch sie verschlingen sich im Lauf der Geschichte selbst. Schuld ist jedoch keine falsch eingestellte Wärmelampe, sondern die eigene Paranoia.

Hector und Pelusa leben mit ihren beiden Söhnen in einer Gated Community namens Nordelta. Als Schauplatz hat Guse ein nicht näher bezeichnetes südamerikanisches Land gewählt, vermutlich eine futuristisch-dystopische Version von Argentinien. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist groß, die Erinnerung an ein Gewaltregime noch relativ frisch, die Furcht vor massenhafter Einwanderung aus ärmeren Nachbarländern, vor Bandenkriminalität und Drogenkriegen schon heute real. So weit, so nachvollziehbar. Allmählich jedoch wird klar, dass sich die Bewohner Nordeltas nicht nur abschotten, sondern regelrecht einmauern in ihre eigenen Ängste. Die sich eben nicht auf konkrete äußere Umstände beziehen, sondern auf eine zwar überall beschworene, letztendlich aber abstrakt bleibende Bedrohung: den „großen Aufstand“, die „Eskalation der Gewalt“. Nirgends wird ausbuchstabiert, von wem die Gewalt ausgeht oder wie die Gesellschaft im Ganzen aussieht. Gekonnt lässt Guse in der Schwebe, ob in anderen Stadtvierteln tatsächlich Plünderungen und Blockaden stattfinden, oder ob diese Meldungen nur als Rechtfertigung für verstärkte Sicherheitsmaßnahmen dienen. Damit liefert er nicht nur die scharfsinnige Überzeichnung eines Überwachungsstaates, sondern protokolliert zugleich den schleichenden Zerfall von Gemeinschaft und Individuum, das Zerbrechen an der eigenen Paranoia. Denn auch die zunächst vorherrschende „Wir-gegen-die“-Mentalität verwandelt sich alsbald in ein allgemeines Misstrauen, das sogar Freundschaften und familiäre Bindungen zersetzt.

Aufschlussreicher noch als die Dialoge zwischen Hector und Pelusa sind die eingeschobenen Gesprächsfetzen der Nordelta-Hotline, die so amüsante wie verstörende Einblicke in die Gemütslage der Bewohner gewähren: Familien bezichtigen einander der Entführung ihrer Haustiere oder beschuldigen ihre Putzfrauen des Diebstahls; ein von der Arbeit heimkehrender Ehemann verwechselt sein Haus mit einem anderen und legt sich versehentlich bei einer fremden Frau an den Pool.

Besonders faszinierend ist, wie der Autor es schafft, in die Hirne von Charakteren einzudringen, die sich letztendlich selbst undurchsichtig bleiben. Er zwingt damit seine LeserInnen, beständig anzuzweifeln, was real ist und was möglicherweise nur der Fantasie der gerade erzählenden Person entspringt. Immer scheint es da einen dunklen Flecken zu geben, der so tief sitzt, dass die Figuren selbst nicht an ihn herankommen. Daher vielleicht auch die diffuse Angst vor der eigenen Sicherheitszone: Bezeichnenderweise leben sowohl Hector als auch Pelusa in der beständigen Furcht, an den Schranken ihrer Community abgefangen, als etwas Fremdes erkannt zu werden, von dem sie selbst nicht genau wissen, was es ist.

Pelusa engagiert sich in der freikirchlichen Gemeinde und schraubt sich, angestachelt durch ihre Schwester, immer tiefer hinein in ihre Wahnvorstellungen vom bevorstehenden Weltuntergang. Derweil übt sich Hector zusammen mit seinem besten Freund im „Preppen“, der Vorbereitung für ein Leben nach der Zivilisation. Das Palaver über Bug-out-Häuser, Konservennahrung und Camouflage-Anzüge hat zunächst den Anschein eines harmlosen Hobbies, schlägt jedoch nach und nach um in bitteren Ernst. Spätestens dann, als Hector anfängt, den Pool in einen Bunker umzufunktionieren. Zu diesem Zeitpunkt jedoch hat seine Unruhe längst einem perversen Triumphgefühl Platz gemacht: „Du hast es immer gesagt, allen hast du es gesagt: Der Überlebenskampf beginnt vor der eigenen Haustür.“

Von allen Seiten kriecht das Unheimliche heran – egal, ob real oder imaginiert –, höhlt Häuser und Menschen aus. Denn nicht nur „die da draußen“ stellen eine Bedrohung dar, sondern auch das Land selbst, auf dem Norddelta errichtet ist. Nachts kommen die Erdkröten aus ihren Löchern, riesige Schwarz-Enten lassen sich auf den künstlichen Seen nieder, Ungeziefer nagt die Gartenmöbel an und der Rost die Sockel der Häuser. Überall bröckelt die dünne Haut der Zivilisation.

In Anlehnung an den magischen Realismus bedient sich Guse auch sprachlich einer Poetik der Bedrohung, die immer wieder flüchtige Risse in der Wirklichkeit erzeugt. „Die Luftspiegelungen über der Straße vermitteln den Eindruck großer Löcher, die in ein unbekanntes, diesiges Nichts führen“, heißt es bereits auf der ersten Seite. Und selbst vor dem vermeintlichen Schutzraum des Einfamilienhauses macht die surreale Verzerrung nicht Halt: „Pelusa steht mitten im Wohnzimmer und mit einem Mal wirken die Dinge wie in einer Zentrifuge nach außen an die Wände gekämmt und außer Reichweite.“ Bis schließlich auch der Körper seine Gewissheit verliert, die Grenzen zerfasern, menschliche Attribute mit denen von Tieren oder Maschinen verschmelzen: „Sie hält eine Scheibe Brot, als wäre ihre Hand eine fleischige Pinzette.“

Besondere Aufmerksamkeit verdient auch die leicht verschobene Parallelerzählung, die sich in den Hauptstrang hineinwindet, ihn gleichsam verschluckt wie die überhitzte Anakonda ihren eigenen Leib. In dieser zweiten Ebene, von der man lange Zeit nicht weiß, ob sie auf ein Früher, ein Später oder eine gleichzeitig ablaufende Realität verweist, lebt ein Ich-Erzähler mit einer schwangeren Frau, die ebenfalls Pelusa heißt, in einem abgelegenen Haus am Fuß der Anden. Einiges deutet darauf hin, dass es sich um Pelusas Vorgeschichte handelt. Diese jedoch findet im Haupterzählstrang kaum Erwähnung, existiert also in etwa so getrennt vom Jetzt wie Traum und Wachen oder „Ich“ und „Es“ innerhalb der menschlichen Psyche. Ein zweiter Ansatz könnte sein, den Ich-Erzähler als dunkle, verwilderte Version von Hector zu deuten, eine Wunsch- oder Angstfantasie seiner selbst. Durch beide Erzählstränge zieht sich die schleichende Auflösung der inneren Sicherheit in Verbindung mit zunehmendem Kontrollzwang. Am Ende, man ahnt es, beißt sich auf beiden Ebenen die Schlange in den Schwanz – welch kongenialen Twist sich Guse hat einfallen lassen, um die Kreisbewegung zu vollenden, sei an dieser Stelle jedoch nicht verraten.

Guses hochkonzentrierte Beschränkung auf das wahnhafte Bewusstsein seiner Figuren erinnert nicht nur an fantastische Klassiker der lateinamerikanischen Literatur wie beispielsweise Adolfo Bioy Casares‘ „Morels Erfindung“, sondern auch an Roman Ehrlichs großartigen Postapokalypse-Roman „Das kalte Jahr“. Die raffiniert verschachtelte Dramaturgie und die ausgefeilten sprachlichen Mittel, mit denen der gerade mal 26-jährige Autor unserer Gesellschaft den Spiegel vorhält, machen „Lärm und Wälder“ zu einem außergewöhnlichen Debüt, das auf weitere literarische Überraschungen hoffen lässt.

Juan S. Guse
Lärm und Wälder
S. Fischer
2015 · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-10-002434-3

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