Eine Romantikerin der Versammlung
Gleich vorneweg: Wer denkt, dass Judith Butler eine Konstruktivistin ist, hat etwas nicht verstanden, was sie in ihren nun erschienenen Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung entschieden klarstellt: Es gibt für sie zweifelsfrei so etwas wie eine Realität. Und in dieser Realität gibt es tatsächlich Körper, die Freiheit, Leib und Leben riskieren, wenn sie auf die Straße gehen. Das ist insofern zu bemerken, da Butler zugleich und ohne dabei auch nur ein Jota nachzugeben auf der sozialen Konstruiertheit von Geschlechterrollen besteht. Man wird nicht als Mann oder Frau geboren, man wird zu seinem jeweiligen Geschlecht gemacht. Mit der Unterscheidung von Gender und Sex, also dem sozialen und biologischen Geschlecht, wird dem auch einigermaßen Rechnung getragen. Allerdings macht Butler zugleich entschieden klar, dass das soziale Geschlecht (Gender) zwar sozial konstruiert ist, aber nicht frei disponierbar. Mehr noch, das soziale Geschlecht ist nicht gewählt, sondern zugewiesen. Innerhalb dieser Zuweisung gibt es jedoch naheliegend zahlreiche Abweichungen und Variationen – und hin und wieder auch Verstöße, die – da nun Gesellschaft ihre Ordnung liebt – sanktioniert werden.
Diese Sanktionen aber sind in einer offenen Gesellschaft nicht opportun, in der das Recht jedes Einzelnen auf die freie Gestaltung seines Lebens und die Wahl etwa auch seiner sexuellen Präferenz nur unter ganz bestimmten, genau definierten Umständen eingeschränkt werden darf. Für Homosexuelle oder Transsexuelle können diese Einschränkungen eben nicht aus ihrer Disposition abgeleitet werden. Eine offene, mithin moderne Gesellschaft muss sie aushalten können und anerkennen, wie sie auch konventionelle Dispositionen aushalten und anerkennen muss. Auch was das angeht, gibt es keine Doktrin, die das Recht auf Dominanz hat. Unterschiede müsse ausgehalten werden.
Butler baut dies allerdings deutlich von der Seite der außerordentlichen sexuellen Disposition und von der gesellschaftlichen Position von Frauen auf – was ihrer Darstellung offensichtlich deutlich mehr Kraft und Durchsetzungsvermögen gibt. Das Argument gegen eine hierarchische, männlich und heterosexuell dominierte Gesellschaftsstruktur ist nicht deren anachronistische Struktur, sondern ein ethisches Argument, das sich aus dem Recht aus Gleichberechtigung und Anerkennung speist.
Was das mit der performativen Theorie der Gesellschaft zu tun hat? Sehr viel. Denn Butler kommt in diesem Text, der in vielem tatsächlich unabgeschlossen und unausgewogen erscheint, entschieden von der Erfahrung der Außenseiterin her, die sich durch ihr abweichendes Verhalten massiven Attacken ausgesetzt sieht und für ihre Anerkennung auf die Straße gehen muss. Die öffentliche Präsentation des Außerordentlichen und Ungewöhnlichen ist der Ansatzpunkt für Butlers Theorie der Versammlung ebenso wie der Anspruch, dass das Außerordentliche und Ungewöhnliche Anspruch auf Anerkennung hat.
Dabei schlägt sie einen großen Bogen von den Anliegen der Lesben-, Schwulen- und Transbewegungen hin zu den Protesten in den nordarabischen Ländern oder der Türkei. Sie sieht darüber hinaus Anschlussmöglichkeiten, die der einen Bewegung erlauben würde, sich mit der anderen zu verbünden. Das Geschlecht wird dabei jenen infrastrukturellen Basisausstattungen zugeschlagen, für deren Sicherung diese und andere Versammlungen gekämpft haben und weiterhin kämpfen werden. Und auf dieser Verbindung kommt es Butler in besonderem Maße an.
Eingebettet ist dieser Ansatz in die Überlegung, dass die Individualisierung als Produkt der kapitalistischen Modernisierung den Einzelnen auf sich selbst zurückwirft, wenn man dem Ansatz von Ulrich Beck folgt, der diese als weitere Modernisierungsstufe in die Diskussion gebracht hat. Was bei Beck und anderen als Zwang wie Chance zur Selbstregulierung beschrieben wird, wird für Butler zum Kernbestand der beständigen Prekarisierung. Die Auflösung von stabilen Rahmenbedingungen, die sie in ihren Anmerkungen wiederholt als notwendige Bedingung für ein lebbares Leben bestimmt, sei weder von den Individuen betrieben worden, noch dürften sie die Lasten dafür tragen. Die Privatisierungsbestrebungen, gegen die sich zahlreiche Proteste erhoben, sieht sie als Versuch, stabile Rahmenbedingungen aufzulösen und prekarisierte Verhältnisse zu institutionalisieren, in denen die Einzelnen dann dem Markt und seinen Akteuren hinreichend hilflos ausgeliefert seien. Mit anderen Worten, die Individuen stehen, was ihre Lebensverhältnisse angeht, mit dem Rücken zur Wand. Und sie haben nur eine Chance, sich dagegen zu verwahren, sie gehen auf die Straße.
Die öffentliche politische Versammlung ist dabei nicht ein Teil des öffentlichen Lebens neben anderen. Für Butler gerät sie zum Kernbestand der politischen Aktion selbst. Bis hin zu dem Diktum, dass die Versammlung zum verbliebenen Instrument des Prekariats ist, seine Position erkennbar und laut vernehmbar zu machen.
Das ist für ein autoritäres System naheliegend und plausibel. In Systemen, in denen jede Form der Abweichung als Opposition und als destabilisierend verstanden wird, ist die Versammlung die ultima ratio der politischen Aktion. China, Nordafrika, Türkei, ja auch die antirassistischen Proteste in den USA rekurrieren auf ein System, das politisch nicht mehr beeinflussbar ist und in dem die öffentliche Versammlung zum offensichtlichen und – was die Bedeutung der Medien im Konzept der Versammlung kennzeichnet – weit wahrnehmbaren letzten Mittel wird, um das Überleben der prekarisierten und marginalisierten Bevölkerungsteile zu demonstrieren.
Für europäische Verhältnisse ist es dabei befremdlich, wenn Butler die öffentliche Versammlung als rechtlich ungesichert versteht. Es gebe keine Regierung, die die Versammlungsfreiheit garantiere, wenn diese deren Existenz gefährde – was allerdings auf ein spezifisches rechtliches Vorverständnis Butlers schließen lässt. Für autoritäre Regime wird man dieses Verständnis noch nachvollziehen können. In einem System wie dem hiesigen, in dem Regierung und Bevölkerung gleichermaßen den Rechtsverhältnissen unterworfen sind und sie im Grundsatz für jeden einklagbar sind, mag das jedoch befremden. Wenngleich sich auch ein Rechtssystem wie das der Bundesrepublik nicht von Unwuchten freisprechen lässt. Allerdings ist eine Situation, die für Max Horkheimer und Theodor W. Adorno so aussagekräftig war und die am Schluss von Hans Falladas Roman „Kleiner Mann, was nun?“ zu finden ist, von einem System wie der BRD suspendiert: Der kleine Mann darf nicht mehr ohne weiteres von den Auslagen vertrieben werden, die er sich anschauen will.
Gleichwohl hat Butler recht damit, dass ein Regime dieses Recht, sich zu versammeln, nicht schützen wird, wenn es davon gefährdet ist. Und mehr noch: Grundsätzlich sind die Körper, die sich in der öffentlichen Versammlung zusammenfinden und die ein eigentümliches Netzwerk von Beziehungen Interdependenzen bilden, in höchstem Maße gefährdet. Nicht durch terroristische Akte, wie dies seit kurzem in das Bewusstsein der westeuropäischen Bevölkerung so präsent geworden ist, sondern durch Angriffe der Regierungsexekutive. Teilnehmer gewaltsam geräumter Versammlungen wie auf den G7-Gipfeln oder noch mehr bei den zahlreichen Protesten der letzten Jahre werden dies bestätigen können. Diese Verletzbarkeit ist es denn auch, die Butler zum Schluss in den Mittelpunkt ihrer Anmerkungen rückt. Sie ist es, die – mit der eigenen Gewaltlosigkeit korrespondierend – die öffentlichen Versammlungen in eine spezifische Position bringen, die wiederum die Solidarität anderer, die diese Versammlungen wahrnehmen, provoziert.
Es ist die Wahrnehmung der gemeinsamen Verletzlichkeit, die die Solidarität, auch anderer Minderheiten oder anderer Gruppen möglich macht und auf diese Weise die Versammlungen vernetzt. Das Bewusstsein, dass in der Prekarisierung und der Vulnerabilität eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten von Bevölkerungen steht – sie selbst spricht, missverständlich und bewusst unscharf von Volk – ist die Bedingungen für die Solidarisierung und damit für die Vertiefung der politischen Dimension der Versammlung.
Dennoch bleibt in Butlers Skizze ein wunder Punkt, den sie zwar in ihren Anmerkungen zwar immer wieder anspielt, der aber hier nie systematisch behandelt wird, die nicht progressive, lebensrettende und das Überleben sichernde öffentliche Versammlung mit nationalistischem, chauvinistischem oder sexistischem Inhalt. In einem Interview darauf angesprochen, hat sie solche Versammlungen als Mob bezeichnet, dem es nicht darum gehe, überlebenswichtige Ressourcen zu retten, sondern darum, Privilegien, die in der gesellschaftlichen Prozessen unterzugehen drohen, um jeden Preis zu retten, die der Deutschen gegen Flüchtlinge, die des Abendlandes gegen die Islamisierung, die des Weißen gegen die Farbigen, die des Mannes gegen die Befreiung der Frau, die des Heterosexuellen gegen die Emanzipation der Homo- und Transsexuellen.
Die stabilen Verhältnisse, die sie an anderer Stelle als notwendig beschrieben hat, werden hier als Verlustanzeige oder gar nationales Projekt vorgeführt. Mit einem anderem, nicht libertären Charakter und mit deutlich aggressivem Unterton. Ob man dem mit dem Verweis auf den Mob-Charakter beikommen kann und gleichfalls damit, dass man dieser Art der Versammlung den Versammlungscharakter und deren Legitimität abzusprechen versucht, scheint fraglich. Das Antidot gegen die autoritären und nationalen Versammlungen ist hier das Verbot (das sie allerdings nicht ausspricht), nicht das Recht auch des Falschdenkenden sich zu artikulieren. Da scheint es sinnvoller und konsistenter zu sein, die Versammlungsfreiheit, so latent ungeschützt sie auch sein mag, auch für die zu verteidigen, die sie für eine geschlossene Gesellschaft und für die Rettung ihrer Privilegien zu verbrauchen versuchen. Eine offene Gesellschaft wird nicht gesichert, indem man sie an die Gepflogenheiten autoritärer Regime annähert.
Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben