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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Es sind viele Stimmen in der einen

Jürgen Dziuk kennt – man verzeihe mir die Direktheit – keine Sau. Und das ist traurig. Zwar ergeht es den meisten Dichtern so, da keine Sau mehr Lyrik liest (ausgenommen Klings 300), aber Dziuk ist wirklich nur einem winzig kleinen Kreis bekannt. Und vermutlich wäre er selbst das nicht, hätten nicht Axel Sanjosé und Richard Drove sich intensiv, mühe- und liebevoll durch seinen Nachlass gewühlt

Auch mir war er noch bis vor wenigen Wochen unbekannt. Ich stöberte, wie so oft in der Hoffnung auf eine Neuentdeckung, in Online-Antiquariaten, als ich auf einen Band mit dem Titel „was bleibt ist Ferne“ stieß. Das blieb hängen, zog sich durch mehrere Tage wie ein Ohrwurm. Bei nächster Gelegenheit fragte ich Axel Kutsch, und als der mir sagte, es lohne sich, orderte ich das Buch.
Ich habe es seither schon drei Mal gelesen – und das will was heißen. In der Regel lese ich einzelne Gedichte wieder, aber fast nie einen kompletten Gedichtband. Dziuk hatte nachhaltig Eindruck bei mir hinterlassen. Seine sanfte Melancholie, seine nachhallende Leichtigkeit, seine tiefsinnigen und komplexen, dabei in einer höchst verständlichen und eingängigen Sprache verfassten Poeme, deren Verse mir in allen möglichen noch so scheinbar banalen Alltagssituationen immer wieder zuflogen.

Jürgen Dziuk wurde nur 44 Jahre alt. Er starb an seinem Geburtstag 2004 in Kuala Lumpur. Bis dahin hatte er gerade mal einen selbstgeflickten Band von ca. 20 Exemplaren an Freunde verteilt und eine Handvoll Gedichte in Anthologien veröffentlicht. In München hatte er Sinologie, Ethnologie und Amerikanische Kulturgeschichte studiert, hatte ausgiebige Reisen nach Asien unternommen und die Liebe zur asiatischen Kultur schließlich zum Beruf gemacht – aber nicht künstlerisch, sondern eher bürgerlich im Exportgeschäft. Eine Organinsuffizienz beendete sein Leben.

#Wie zu erfahren ist, hatte Dziuk eine Abneigung gegen das Schwere, das Bedrängende, das Düstere in der deutschen Lyrik, auch gegen das Verkopfte. Man spürt das in seinen Gedichten, die all das haben, was die heutige, oft pseudo-intellektuelle Germanistenlyrik so schmerzlich vermissen lässt. Dziuks Verse sind nah, ganz nah am Leben, so nah, dass die von ihm gezeichneten Bilder und Emotionen im Moment des Lesens spürbar, erlebbar werden. Man kann Dziuk nicht in einen Trend oder eine lyrische Tradition einordnen, und das macht ihn umso sympathischer.

Schlicht „Entdeckung I“ betitelt er ein Gedicht, in dem er im Grunde alles erfasst, was menschliches Fühlen ausmacht:

Entdeckung I

dort drüben!
du musst es doch
bemerkt haben
auch du

doch die Luft sieht weg
kein Millimeter Horizont
verlässt den Himmel

dort drüben war es!
dort, wo es jetzt
noch nachbebt
in mir

Die Entdeckungen macht der Leser gemeinsam mit dem Autor. Dziuks Gedichte leben maßgeblich von ihrer Zeitlosigkeit. Es ist die Art Gedichte, die zwar einem ganz subjektiven Empfinden entspringen, die aber weit über ihren Verfasser hinaus deuten, die an nichts und niemanden gebunden sind, und die im Grunde jeder Leser verstehen, verinnerlichen kann, auch ohne große literarische Vorbildung, und die das schaffen ohne je banal oder eindimensional zu sein. Wie dieses:

wem fehlt schon…

wem fehlt schon
die Ewigkeit
nicht, daß es sie
nicht gäbe
auch ich träumte von ihr
in sonstigen Bildern

die Straße vorm Haus
seit gestern
einspurig

Oder auch dieses, ganz grandiose Gedicht:

unerwarteter  Tod der Laterne

rasend verengt sich
die Gasse am Abend

und an deinen Fingern
bricht sich die Flucht
noch im Sprung

Zungenschlag

die Laterne
senkt ihr Glas
und brennt weg

Es sind viele Stimmen in der einen, die aus diesen Gedichten spricht. Nicht nur, dass solche Texte in Schulbücher gehören, weil sie sich dem germanistischen Interpretationsunsinn entziehen und stattdessen eine Individualität des subjektiven Findens und Empfindens entfalten, das für den Zugang zur Lyrik, zur Komposition von Sprache maßgeblich ist – nein, solche Gedichte sollten auch zur Pflichtlektüre für angehende Autoren gehören, damit sie rausgehen aus ihrem Studierzimmer, rausgehen aus der Bibliothek, rausgehen aus dem streng Akademischen, und das Leben erfassen, das Sehen und das Fühlen, das Dziuk in Worte gefasst hat, die nicht komponiert sind, sondern eben gefühlt. Der natürliche Fluss seiner Gedichte ist intuitiv, assoziativ, und das macht ihn stark. Was er einfängt ist der Eindruck des Augenblicks, reflektiert in der menschlichen Betrachtung, die sich leiten lässt, hinter die Dinge zu blicken und zu fragen, zu erfahren, was sie trägt.

Jürgen Dziuk · Axel Sanjosé (Hg.) · Richard Dove (Hg.)
Was bleibt ist Ferne
Ralf Liebe
2007 · 144 Seiten · 10,00 Euro
ISBN:
3935221827

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