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Kritik

Aufräumarbeiten am romantischen Mythos

Chatterton und seine Fälscher

Selten hat eine Figur der Literaturgeschichte die Biographen in solchem Maß zu kreativen Spekulationen gereizt, wie der 1752 in Bristol geborene und am 24.8.1770 in London an einer Überdosis Arsen gestorbene Thomas Chatterton. Diesem Phänomen biographischer Willkür sucht der jüngst erschienene Band Chatterton oder Die Fälschung der Welt von Jürgen Heizmann nachzuspüren.

Dabei fasst der Autor die Grenzen seiner biographischen Darstellung bisweilen sehr weit, beleuchtet er doch in den 18 Kapiteln sowohl die Stadtgeschichte Bristols und den geistesgeschichtlichen Horizont der Epoche als auch – in durchaus breiter Aufarbeitung – die mannigfaltigen und intermedialen Adaptionen des Chatterton-Mythos. Dass Heizmann sich dabei nicht nur um eine ausgezeichnete und umfassende Faktenrecherche bemüht, sondern ebenso um eine spannende Präsentation, davon zeugt bereits der Einstieg: Wider Erwarten findet sich der Leser nicht in die Lebenszeit des titelgebenden Helden (so man ihn denn so nennen mag) versetzt, sondern in das Jahr 1835, als Alfred de Vignys Drama Chatterton uraufgeführt wird und das Publikum des Pariser Théâtre Français zu frenetischen Beifallsstürmen treibt. Dieses erste Kapitel erfüllt damit zugleich eine programmatische Funktion, nimmt die Auseinandersetzung mit den verschiedenen künstlerischen Interpretationen der Chatterton-Figur in Heizmanns Werk doch durchaus einen erheblichen Raum ein.

Ausgehend von dieser Einführung springt die Darstellung nun in die eigentliche Chatterton-Zeit, lässt das sowohl frühkapitalistische als auch bieder-engstirnige Bristol des späteren 18. Jahrhunderts auferstehen und findet so – mit einem Umweg über die heute noch sichtbaren Spuren des Dichters in seiner Heimatstadt – den Weg zu ihrem Protagonisten. Im Zentrum steht von jetzt an die Frage: »wie erklärt sich so ein Leben?«. Ein Leben, das in einem Bristoler Armenviertel beginnt, einen kurzen kometenhaften Aufstieg als Entdecker (in Wahrheit aber Schöpfer) mittelalterlicher Gedichte und Journalist verzeichnet und nach nur 18 Jahren in einer schäbigen Dachkammer im Londoner Hurenviertel sein jähes, aber wohl willentliches Ende findet. Eine eindeutige Antwort auf diese zentrale Frage vermag auch Heizmann nicht zu geben, denn »[d]ie zahlreichen biographischen und künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Chatterton zeigen, dass es keine einfachen Wahrheiten gibt. Es ist unmöglich, durch alle Berichte und Versionen über Chattertons Leben vorzudringen zu den ›wahren Ereignissen‹. Jede Darstellung seines Lebens ist eine Erfindung«.

Nichtsdestoweniger erweist sich der vorliegende Band als äußerst gewinnbringend für die Chatterton-Forschung, bemüht er sich doch konsequent darum, Klarheit in die verwirrende Gemengelage aus Fakten und Fiktionen zu bringen. Anders als in bisherigen biographischen Darstellungen werden bestehende Lücken im Lebenslauf des Dichters nicht mutwillig geschlossen, sondern als solche explizit ausgewiesen und reflektiert. Geboten wird nicht eine »geschlossene, abgerundete Biographie Chattertons«, sondern Heizmann lässt »Brüche, Unsicherheiten, Widersprüche und Leerstellen zu« . Dass der Text trotz dieser kritisch-zergliedernden Vorgehensweise im Großen und Ganzen weder Lesefluss noch Spannung entbehrt, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass dem Gerippe historischer Fakten stellenweise durchaus fiktionales Fleisch aufgehängt wird – nur, dass eben diese literarisierten Stellen für den Leser stets als solche erkennbar bleiben. So etwa, wenn Chattertons mutmaßliche Reaktion auf das anerkennende Schreiben des damaligen Literaturpapstes (wenngleich selbst Fälschers) Horace Walpole beschrieben wird:

„Er [d.i. Chatterton] wird es wieder und wieder gelesen haben, und leicht lässt sich vorstellen, welche Gedanken ihm dabei durch den Kopf rasten. Seine Täuschung war gelungen. Walpole, der im ganzen Land bekannte Experte für Altertümer, hatte angebissen. […] Endlich Anerkennung, endlich Aussicht auf Ruhm!“ 

Jedoch bleibt zu bemerken, dass diese Momente, in denen der tragische Held tatsächlich zu einem lebendigen und leidenschaftlichen Charakter avanciert, eher selten sind. So birgt der Segen von Heizmanns Programmatik in Gestalt von wissenschaftlicher Klarheit zugleich den Fluch der Blutleere in sich. Diese Schwäche tritt vor allem dann zu Tage, wenn sich nach dem 13. Kapitel Chatterton als Akteur aus der Biographie verabschiedet, und die restlichen fünf Abschnitte seinem künstlerischen Nachleben gewidmet sind. Die teils ausschweifenden Rezensionen, insbesondere von Ernst Penzoldts Schelmenroman oder den umstrittenen Inszenierungen Hans Henny Jahnns und Matthias Pintschers, lassen das Ende der Darstellung – zu Gunsten einer erschöpfenden Bewältigung des Themas – etwas auseinander fallen. Diese Pluralität der Stimmen ist es jedoch auch, die den hohen Grad an Transparenz bedingt: Allein zehn Biographien über den hochbegabten und frühreifen Sonderling haben Eingang in Heizmanns Werk gefunden, daneben zahlreiche Bühnenstücke und Texte sowie Bilder, die von der Figur Chatterton inspiriert wurden und ihrerseits weiter zu deren Mystifizierung beigetragen haben. Ebenso finden sich bedeutende Zeitdokumente, darunter ein Brief der Schwester Mary über den verstorbenen Thomas. Als streitbar, gleichwohl aber sehr inspirierend dürfte Heizmanns Versuch gewertet werden, Chattertons erfundene altenglische Verse ins Deutsche zu übertragen, wobei er dieser Transkription ein »recht phantastisches Frühneuhochdeutsch« zu Grunde legt.

Auch der Rezeption in Deutschland wird einige Aufmerksamkeit geschenkt, so dem Beifall und Mitleid Herders, der Chatterton eine »poetische Rakete« nannte, »die glänzend emporstieg, um schnell zu sinken«. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang Heizmanns Versuch, die doch geringe Breitenwirkung Chattertons unter den Deutschen zu erklären:

„In dem Kulturraum, der bereits den Werther hervorgebracht hatte, so meine These, konnte die Geschichte eines jugendlichen Außenseiters und Genies, das sich an der Gesellschaft aufrieb und im Selbstmord endete, nicht auf das gleiche Interesse stoßen wie in England und Frankreich.“

So war, ist und bleibt Chatterton das zu Lebzeiten verkannte und nach – oder sollte man sagen: durch – seinen Selbstmord verklärte Genie, dessen tragisches Schicksal vor allem den Romantikern in die poetischen Hände spielte. Diesen Mythos zu dekonstruieren war explizit nicht Heizmanns Ziel, denn »letzten Endes ist entscheidend, wie glaubwürdig, wie schlüssig und wie lebendig ein Biograph oder Künstler uns ein vergangenes Leben vor Augen zu führen vermag«. Mit kleinen Abstrichen kommt Heizmann diesem Ziel sehr nahe – mit dem großen Verdienst, die verschiedenen Fäden gewissenhaft auseinander sortiert zu haben.

Jürgen Heizmann
Chatterton
oder Die Fälschung der Welt
Mattes
2009 · 413 Seiten · 28,00 Euro
ISBN:
978-3-868090116
Erstveröffentlicht: 
IASL online

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