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Kritik

Empfehlen Sie mir eine Straße

Mit Kai Weyand die Angst vor dem Tod besiegen
Hamburg

Nachts steht NC am Fenster und wirft Eier an die gegenüberliegende Hausfassade. Tagsüber kauft er Kinokarten, um sie gleich darauf demonstrativ zu zerreißen, oder ein Nussecke, nur um sie dann auf einer Parkbank liegenzulassen. Man könnte sagen: Der 31-jährige Antiheld aus Kai Weyands neuem Roman „Applaus für Bronikowski“ ist ein ziemlich schräger Vogel. Oder auch: Ein Mensch, der hypersensibel ist für Dinge, die sich falsch anfühlen.

Genauso falsch wie der Umzug seiner Eltern nach Kanada, als er 13 war. Das Wort „Lebenstraum“ ist für NC seither gleichbedeutend mit „Verrat“. Denn er und sein Bruder Bernd kamen im Lebenstraum ihrer Eltern schlichtweg nicht vor. Da Bernd bereits volljährig war, ließen die Eltern ihre Söhne einfach in Deutschland zurück. Und NC gab sich einen neuen Namen: NC für „No Canadian“ – seine erste Auflehnung gegen Schönfärberei und Scheinheiligkeit: „Es bedeutete, mit Worten das zu bezeichnen, was zu sehen war, und nicht das, was man in ihnen sehen wollte.“

Während Bernd inzwischen als erfolgreicher Banker in London arbeitet, ist NC zu Beginn des Romans an einem Tiefpunkt angelangt: Job weg, Freundin weg, kein Geld, keine Freunde. Die Wende ergibt sich, wie so oft bei Weyand, durch eine Verkettung skurriler Zufälle. Auf einem Spaziergang lässt er sich von der Bäckereifachverkäuferin Frau März, zu der er sich auf Anhieb hingezogen fühlt, ein Gebäckstück empfehlen. Und dann noch eine Straße. Es ist sicher kein Zufall, dass NC ausgerechnet in der Holpenstraße, deren Namen weder Erwartungen noch Emotionen weckt, seine neue Berufung findet – er landet vor einem Bestattungsinstitut. Dort bekommt NC nicht nur einen Job, sondern obendrein eine Ersatzfamilie, deren Mitglieder kaum weniger verschroben sind als er selbst: Der Bestattungsunternehmer Manfred, der aussieht wie Abraham Lincoln, die kleinwüchsige, schlagfertige Sabine und ein wortkarger Gewichtheber aus Kasachstan.

Mit Vorliebe porträtiert Weyand Figuren, die im Kleinen rebellieren. Immer wieder lehnt sich NC auf gegen die allgegenwärtige Logik von Investment und Selbstoptimierung, in Reinform verkörpert durch seinen Banker-Bruder, für den das Leben eine simple Gewinn- und Verlustrechnung ist. Etwas zu pflegen und herzurichten, das bald zu Staub zerfällt, „das war ja vollkommener ökonomischer Unsinn“ – und genau darum liebt NC seine neue Tätigkeit. Sogar dem Schrecken, der bei diesem Beruf nicht ausbleibt – wie zum Beispiel einer von Insekten wimmelnden Leiche – kann NC etwas Erhabenes und Harmonisches abgewinnen.

Wie wenig wir eigentlich über den tabuisierten Beruf des Bestatters wissen, ist nur eine der erhellenden Erkenntnisse des Buches. Weyand gibt uns Einblicke, die zwar nicht immer schön sind, doch stets die Würde der Toten wahren. Trotzdem sollte man schon einen Sinn für schwarzen Humor und eine Affinität zum Morbiden mitbringen, um „Applaus für Bronikowski“ in vollen Zügen zu genießen. Denn NC ist nicht nur ein sympathischer Sonderling, sondern er verletzt auch Grenzen mit seinen zwar gut gemeinten, aber bisweilen doch recht absurden Ideen. Immer wieder sehen wir ihn an seiner Umwelt scheitern, gefangen in der selbstbezogenen, leicht autistischen Sichtweise eines Kindes, das nicht versteht,  wo es selbst aufhört und die anderen anfangen. Manchmal möchte man ihm tröstend auf die Schulter klopfen, andere Male einfach nur seufzen. Einige Szenen geraten dann auch zu tragikomischen Burlesken – wie etwa der missglückte Versuch einer Seebestattung mitten in der Trauerkapelle – über die man abwechselnd lachen und den Kopf schütteln muss.

Anrührend geschildert sind insbesondere die zwischenmenschlichen Beziehungen, die bei NC etwas anders ablaufen als bei anderen Menschen: die wortlose Verbindung zu Frau März, die vor allem aus Handbewegungen und Intuition besteht, sowie seine Freundschaft mit einem zehnjährigen Jungen, dem NC auf eigenwillige Weise beibringt, sich gegen die Hänseleien älterer Schulkameraden zu wehren. Gegen Ende freundet sich NC sogar mit einem nicht-menschlichen Außenseiter an: dem dreibeinigen Hund November. „Es war die Sehnsucht nach jemandem, der mit drei Beinen lief, als hätte er vier.“ Derartige Sätze von schlichter Schönheit und zugleich verborgener Bedeutung, über die man noch lange nachgrübeln kann, machen Weyands Roman aus.

Kleine Perlen sind insbesondere NCs Betrachtungen zu Worten, Klängen, den Formen von Buchstaben. Oder ist sonst schon jemandem aufgefallen, dass „Gier“ die zentrale Silbe des Wortes „Regierungsbank“ ist? Auf Manfreds Frage hin, warum er nie über Freunde oder Familie spreche, sagt NC, er traue Worten nicht, die mit F beginnen, einem derart unausgewogenen Buchstaben, der beständig umzukippen droht. Und über den Hund November sinniert er: „Drei Silben, drei Beine … Es ist doch verrückt, wie sich manche Dinge zusammenfügen, obwohl sie eigentlich nichts miteinander zu tun haben.“

Weyands Augenmerk liegt ganz offensichtlich nicht auf einer temporeichen Handlung, sondern auf seinen liebevoll gezeichneten Figuren. Sie alle haben, ob aus Einsamkeit oder dem vollkommenen Einverständnis mit ihrem Körper und ihrem Tun, einen ganz besonderen Blick entwickelt. Auf das Leben, den Tod und die Sprache. Ganz ohne Pathos gelingt es Weyand, diese leicht verschobene Perspektive auch auf seine LeserInnen überspringen zu lassen. Allein die Alltagsszenen, die NC durchlebt, werfen zwischen den Zeilen immer wieder existenzielle Fragen auf: Wie viele Dinge wir tagtäglich halbherzig, aus Höflichkeit oder falschem Anerkennungsbedürfnis tun, zum Beispiel. Wie wir wären, wenn uns niemand zusähe.

Schön, dass es dieses erstaunlich leichte Buch über schwere Themen auf die Hotlist 2015 der unabhängigen Verlage geschafft hat!

Kai Weyand
Applaus für Bronikowski
Wallstein
2015 · 188 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-8353-1604-1

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