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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

»Formen statt Formeln«

Oder wie man Lyrik gerecht wird – Karen Leeder lud ein die Schaltstelle Lyrik zu untersuchen

Dieser Band zur "neuen Lyrik" beeindruckt nicht nur durch kundige und fundierte Analysen, sondern auch durch eine gelungene Kombination von wissenschaftlichen Beiträgen und umfassender Bibliographie auf der einen sowie einem Interview mit Heinz Czechowski und aktuellen Gedichten zeitgenössischer LyrikerInnen auf der anderen Seite. Zeitgenossenschaft und "neue Lyrik" werden dabei nicht mit den kontrovers diskutierten "LyrikerInnen von Jetzt" (Björn Kuhligk und Jan Wagner: Lyrik von Jetzt. Köln 2003 sowie Lyrik von Jetzt 2. Berlin 2008) gleichgesetzt, sondern umfassen AutorInnen verschiedener Generationen und verschiedener deutschsprachiger Gebiete. So werden die seit den neunziger Jahren entstandenen Werke nicht mit dem Ziel eines "comprehensive overview" (S. 3) untersucht, sondern durch differenzierte Sichtweisen auf unterschiedliche Themen und Schreibweisen, Facetten eines irisierenden Ganzen beleuchtet.

Karen Leeder, die an der University of Oxford neuere deutsche Literatur lehrt, beschreibt den Titel "Schaltstelle" in ihrer umfassenden Einführung zur gegenwärtigen Situation der Lyrik nicht nur als eine den Paradigmenwechsel zu naturwissenschaftlichen und medientechnologischen Fragestellungen charakterisierende Metapher, sondern als Verknüpfungspunkt verschiedenster vor allem kommunikativer Aspekte. Vernetzungskriterien, in der Literaturwissenschaft bislang in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Einflusses digitaler Medien auf narrative Strategien untersucht, können auch für die Poesie eine "idea of a central place of exchange" (S. 1) kreieren. Dieser Gedanke des "Ortes" stellt einen wichtigen Pol gegenwärtige Gedichte dar - sei es als Heimat, Niemandsland oder Transitbereich, als Nahtstelle zwischen Vergangenem und Zukünftigem, als Schnittpunkt zwischen außen und innen, als Ort des Aufeinandertreffens kommunikativer Energien, aber auch als Tummelplatz realer, duplizierter und imaginierter Welten.

Bei der Betrachtung der gegenwärtigen deutschen Lyrik-Landschaft springen Leeder die folgenden vier Punkte besonders in Auge: die Dominanz der inzwischen mittleren Generation der zwischen den 50er und 60er Jahren geborenen LyrikerInnen, die starke Präsenz ostdeutscher DichterInnen, die Rückläufigkeit der Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Vergangenheit (S. 19) und die starke Sprachreflexivität, die jedoch eher "Sprachkritik" denn "Sprachskepsis" beinhaltet (S. 23). Bezüglich der stark sprachreflexiven Färbung einer bestimmten lyrischen Richtung bemerkt Leeder, und dies mag das Vorrecht und die Möglichkeit der Auslandsgermanistik sein, auch einige Tendenzen in den Wertungen deutscher LiteraturtheoretikerInnen. So fällt ihr auf, wie Lyrik, die sich weniger auto- und sprachreflexiv, sondern verstärkt form-traditionell und kaum intellektuell überfrachtet gibt, im besten Falle als naiv oder "innerlich" bagatellisiert oder schlichtweg als "Verschenk-Poesie" abklassifiziert wird. Eine ähnliche Einstellung fiel bereits bei der von Theo Elm vorgenommenen Einteilung der Lyrik der neunziger Jahre in "Erlebnis- und Transitdichtung" (vgl. Lyrik der neunziger Jahre, Reclam 2000) auf und scheint sich innerhalb der deutschen Literaturkritik weiter fortzusetzen. Die weniger hierarchisierende Sichtweise dieses Bandes zeugt nicht nur von einem differenzierenden und objektiven Blick, sondern auch von einem respektvollen Umgang mit AutorInnen und RezipientInnen verschiedenster Stilrichtungen.

Den "Orten der Lyrik" und ihren Ausformungen, die von Vergangenheitsbezügen bis zu Körpermetaphern reichen, ist speziell Kapitel 6 gewidmet, das Sujet zieht sich jedoch wie ein roter Faden durch den ganzen Band. Hierdurch und durch den umfangreichen Korpus der untersuchten Werke werden auch lyrische Auseinandersetzungen mit der "Wende" 1989 und deren Auswirkungen auf Poesie und Poetik angesprochen. Die bereits nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 immer schwieriger werdende Definition einer DDR-Lyrik, wurde in der letzten Dekade der DDR (auch durch die umstrittene Fokussierung westlicher Kritiker auf die Lyrik des Prenzlauer Bergs) und nach ihrem Ende immer ungenauer. Die Frage, ob sich die politisch-gesellschaftliche Zäsur von 1989/90 auch in der Lyrik spiegelt, ist dementsprechend noch immer nicht abschließend beantwortet. Dieser Band bietet jedoch zumindest Ansatzpunkte dafür, bisherige Klassifikationen zu überdenken – durch generationenübergreifende Analysen einerseits und andererseits durch die Positionierung jüngerer Lyrik in einem Rahmen, der dieselbe nicht länger ausschließlich Ost/West-Schemata unterwirft. So werden im Kapitel "Vorletzte Worte: Lyrik nach 1990" bewusst Schreibweisen älterer Autoren (Czechowski, Braun, Endler) untersucht und mit Gedichten von Bert Papenfuß ergänzt, um die bislang strikte Trennung der etablierten von den ehemals scheinbar autonomen DichterInnen endlich zu unterlaufen. In anderen Beiträgen stehen Erb, Mayröcker, Jandl, Schrott oder Draesner nebeneinander und relativieren so die nationale Nabelschau. Den jüngsten AutorInnen und der kritischen Auseinandersetzung mit der kontroversen Diskussion um den Versuch, eine "neue Generation von Lyrikern aus dem Boden zu stampfen", ist das gesamte letzte Kapitel gewidmet. Es schließt, wie passend, mit Gedichten von Volker Braun.

Charakteristisch für die gesamte Herangehensweise des Bandes sind die von der Herausgeberin in ihrer Einführung durchgängig genutzten Vokabeln: "Nevertheless" und "However". Sie sind bezeichnend für die differenzierte Sichtweise auf den neuesten Forschungstand einerseits und den umfassende Werkkorpus andererseits. So werden hier weder neue Festschreibungen noch Gesetzmäßigkeiten aufgestellt oder strikte Einordnungen vorgenommen. Stattdessen gelingt es den Beitragenden verschiedenen Strömungen und individuellen Schreibweisen nachzuspüren und gerecht zu werden.

Karen Leeder
Schaltstelle
Neue deutsche Lyrik im Dialog
Rodopi
2007 · 550 Seiten · 110,00 Euro
ISBN:
978-9-042022829

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