Transitmomente
Es gibt eine Nuance in der Stimmung von Texten, bei der sich „lustig“ und „poetisch“ so mischen, dass man nicht aufhören kann zu lesen. Diese Stimmung zu treffen ist schwer und wahrscheinlich darf man es nicht wollen, wahrscheinlich muss der Stoff das von vorne herein hergeben, damit der Stil sich genau an dieser Stelle einpendeln kann.
Wenn Karla Schmidt in ihrer Novelle „Lügenvogel“ die Poetik der Krankheit ergründet, dann trifft sie genau diesen Transitmoment.
Im Transit sind auch die Ebenen der Erzählung, die in der Vergangenheit zu liegen scheinen, deren Konsequenzen für die Zukunft aber ungewiss sind. Erzählerin Maria, so viel ist sicher, hat ein Ei im Kopf, das Ei eines Vogels, das sie ausbrütet und das sie dazu zwingt alles, was um sie herum passiert, aufzuschreiben, immer zu protokollieren. Sogar beim Autofahren, zu Beginn der Geschichte, schreibt sie fleissig und merkt an „Ich kann es schon ohne hinzusehen.“ Aus der „Hypergrafie“ gibt es keinen Ausweg - die Möglichkeit des Selbstmords zieht sie bei ihrer Fahrt durch den Tunnel in Betracht, aber verwirft sie wieder, weil die Wände des Tunnels es nicht zu lassen, sich stattdessen zu einer Höhle weiten. Als der Tunnel zu Ende kommt und sie im Freien ist, sind wir gefangen im Strudel einer Geschichte, erzählt von einer Frau, die sich selbst nicht vertrauen kann und dabei doch den Humor bewahrt. Galgenhumor, eine Distanz (die man beinahe gesund nennen will) zur eigenen Krankheit - dabei stellt das narrativ genau diese Kategorien in Frage.
Das Ei hinter der Schläfe, das dort schmerzfrei schlummert, wird von Marias behandelndem Arzt Dr. Sandmann als „Raumforderung“ bezeichnet: ein Wort, poetischer als „suboptimal“, aber wahrscheinlich unübersetzbar und so schön deutsch, dass man beinahe vergessen könnte, worum es hier geht. Virtuos ist der Tod immer anwesend, immer eingeflochten: Marias Schwester Jana ist (wahrscheinlich) Tod und ihr Vater definitiv auch, doch der eigene Tod, die eigene Krankheit, wird ausgeblendet.
Je mehr die Protagonistin von sich erzählt, je mehr sie erinnert, je tiefer sie in der Vergangenheit wühlt, desto gewaltiger baut sich eine neue Zukunft auf. 1986, nach Tschernobyl, verlassen Maria, ihre Schwester Jana und ihr Vater Berlin und machen sich auf den Weg in die Schweiz, zu einer Tante, die in einer Hippie-Kommune lebt. Marias Vater gibt ihr Beruhigungsmittel gegen Panikattacken und weil er in der Pharmaindustrie tätig ist, hat er gleich einen ganzen Koffer dabei. Immer höher wird Marias Konsumpegel, immer abenteuerlicher ihre Erinnerung. Der Vater, der während der Reaktorkatastrophe in einem Hubschrauber in der Nähe von Tschernobyl war, baut im Laufe der Reise immer weiter ab. Aus der Flucht vor dem Fall-Out und der radioaktiven Verseuchung, die Maria in den Wahnsinn treibt, wird eine Flucht nach vorne in ein Abenteuer, bei dem kein Platz mehr für Ängste bleibt und stattdessen Mut der - eigentlich von den Tranquilizern vollgedröhnten - Teenagerin gefragt ist.
Die Freundschaft zwischen Maria und Jana ist so liebevoll, dass sie ihre eigene Poetik entfaltet. Wenn Maria für Jana Schmetterlinge zeichnet, deren Namen sie zwar nicht kennt, sich aber ausdenkt, Maria sich fragt, was Jana wohl macht, wenn sie merkt, dass sie ihr nur Geschichten erzählt, dann ist das allegorisch für literarisches Erzählen als solches. Was machen wir mit einem Autor, der uns die Welt mit schlüssiger Verve erzählt - vertrauen wir? Stellen wir die Welt, die uns gezeigt wird, in Frage? Oder nehmen wir hin, um der Schönheit willen, dass es vielleicht gar keine Schmetterlinge gibt, die zu viele Flügel, zu viele Beine haben?
Noch grundsätzlicher zeigt Schmidt hier, wie Sprache und Realität miteinander tollen: erst durch das Benennen klassifizieren wir und schaffen Realität, auf die wir uns berufen können. Die Erziehung, die Maria ihrer Schwester anvertraut, ist vielleicht nicht die gleiche Realität, wie die der anderen, aber es ist die Poesie der Freundschaft zwischen zwei Schwestern, die uns zeigt, wie beliebig manche der Grundsätze sind, mit denen wir täglich umgehen.
Diese Freiheit nimmt sich „Lügenvögel“ dann auch immer stärker, verlässt immer mehr das Vertraute und geht in eine Richtung, die an den magischen Realismus eines Murakami Haruki erinnert: Ein Nebeneffekt der Pillen, die Maria gegen die Angst nimmt, tritt zu Tage, der den Lauf der Geschichte, aber auch ihren Ton ändert. Maria ist zu unwillkürlichen Visionen fähig, mit deren Hilfe sie als Traumvogel reisen kann. Traumvögel, mythische Tiere mit Menschenkopf und Vogelkörper, sind es auch, die Marias Tante helfen wollen, als die versucht durch einen alten Stollen hindurch ins Tal zu gelangen, um Hilfe für ihren kranken Bruder zu holen, aber anstatt zu vertrauen, bekommt sie Angst und bricht die Reise durch den Tunnel ab. Es kann nicht sein, was nicht sein darf - auch wenn man weit abgeschnitten von der Zivilisation in einem Bergdorf lebt, als Aussteiger aus einer Welt, die sich ihres Übermuts durch die Reaktorkatastrophe gerade bewusst werden muss.
Die Zukunft, die sich aus dieser Erinnerung aus neu entfaltet, eine Zukunft, in der Marias Schwester Jana lebt, der Vater längst Tod, das Bergdorf nie verlassen ist. Stattdessen lebt Maria in einer post-apokalyptischen Idylle, in der sie die Seide von mutierten Faltern als Rohstoff fast industriell herstellt, ein Monopol wohl, auf einen Stoff, der auch als Droge funktioniert. Jana ist durchgehend high in dieser Zukunft und Maria selbst hat noch immer das Ei in ihrem Kopf. Dr. Sandmann ist weiterhin ihr Arzt und die Notwendigkeiten, die den Alltag von Maria und Jana bestimmen, sind weit anarchischer, als die Welt des Europas von 1986, das vor Augen geführt bekam, wie unsicher das Atomzeitalter eigentlich ist.
Karla Schmidt packt viel Philosophie, viel Skepsis, viel Kritik - überhaupt viel - in diese Novelle, aber flicht es so geschickt in die Erzählung, dass man es nicht merkt. Sie schafft es mit Verve eine Sprache zu finden, die eine Welt aufbaut, von der sie sich zugleich in Skepsis distanziert. Ihre Protagonistin ist zu Stolz zu sterben aber doch wieder zu verrückt um in einer Welt zu leben, die sich nicht beherrschen lassen will, weil sie einfach nicht beherrschbar ist.
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