Ein Kreisgang von Kunst und Natur
Buchtitel sind wichtig. gegenort, der Titel des vorliegenden Bändchens von Lothar Quinkenstein, ist besonders gelungen, ja hintersinnig. Ich habe die 70 Seiten mit Neugier, Gewinn und Vergnügen durchblättert und mich festgelesen in den in zwei Ländern und Sprachen siedelnden Texten. Quinkenstein lebt in und zwischen Deutschland und Polen. Wie viele von uns, liebt er fremdsprachige Einsprengsel als Zitate, Lautkolorit oder manchmal auch nur als namedropping in seinen Gedichten. Ich wünschte, ich könnte Polnisch sprechen, dann hätte ich noch mehr von dem Buch gehabt. Mit Freude habe ich kurze Referenzen zu Texten von Denise Levertov und des wunderbaren amerikanischen Dichters Wallace Stevens gefunden, etwa zu seinem necessary angel, dem notwendigen Engel der Realität („sie wenn am feiertage“). Dies sind wichtige Koordinaten. Man muss Quinkenstein aber noch genauer verorten. Auch hier gibt der Titel des Buches einen Hinweis.
„Gegenort“ ist ein Begriff aus dem Bergmannslexikon und bezeichnet einen zweiten, gegenüberliegend aufgefahrenen Zugang zu einer Grube oder einem Tunnel. Es ist auch der Name von Bergwerken im Saarland (etwa in Neunkirchen), in dem Lothar Quinkenstein aufgewachsen und ausführlich zu Hause gewesen ist. Saarländische Orts- und Personennamen abundieren: Bildstock, Hasborn, Luisenthal, Quierschied etwa oder der Name des im Saarland unablässig gehörig gefeierten Autors und Widerständlers Gustav Regler. Quinkensteins listig betiteltes Buch gegenort verschafft oftmals mit improvisierender Collagetechnik mehrere Zugänge zu den Orten, an denen er seine Sprache und seine Bedeutungen findet. Nachgraben wie in deutschen und polnischen Bergwerken verbindet mehrere Gedichte dieser Gedichtserie. „Poetry is a satisfying / of the desire for resemblance“ zitiert Quinkenstein erneut Wallace Stevens, diesmal in „Gedanken im Herbste“. Hier zeigt sich ein gutes poetisches Programm, das aus der Doppelung lebt, aus Spiegelung, aus der Analogie, aus dem – noch einmal gesagt – doppelten Zugang zu den Phänomenen, etwa in Vergangenheit und Gegenwart und von verschiedenen Seiten. Im polnischen Poznan schreibt der Autor 2008 ein Gedicht über das Bad der „gauhauptstadt posen“ und ruft auf, den Stimmen darin zwischen dem 9. September 1939 und der Gegenwart zu lauschen (vgl. dazu „Missing Links“).
Man bekommt allerhand zu hören bei Quinkenstein, wenn man die Ohren aufsperrt. Mein Lieblingsgedicht in diesem Buch? Das ist das Titelgedicht. Es beginnt:
glück auf der steiger kommt von innen
führt der geheimnisvolle weg und die vollendete
spekulation führt zur natur zurück.
So ist es: zwei Zugänge, zwei Ausgänge – die Möglichkeit des Kreisganges von Kunst und Natur, die eine fördert die andere, die Fiktion die Realität und umgekehrt. Dies ist ein sehr gelungener Gedichtband. Ich bin auf weiteres von Lothar Quinkenstein gespannt und wünsche ihm mehr deutsch- und polnischsprachige Leser.
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