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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Auf der Suche nach der Tiefenschärfe des Lebens

Hamburg

„Hier drunter liegt was Besseres“, behauptet die Überschrift der zweiten Auswahl von Luis Chaves Gedichten, die der Hochroth Verlag in der Übersetzung von Timo Berger vorlegt. Obwohl Chaves, Autor, Journalist und seit 2006 Leiter einer Schreibwerkstatt, zu den bedeutendsten Stimmen der lateinamerikanischen Dichtung gehört, und im spanischsprachigem Raum diverse Preise gewonnen hat, ist es allein dem Mut und der Hartnäckigkeit des Hochroth Verlages zu verdanken, dass ein Jahr nach „La Foto“, weitere Gedichte in deutscher Übersetzung vorliegen.

Schon bei den in „La foto“ versammelten Gedichten, ging es um die Dinge, die nicht sofort ins Auge springen, was sich aus den Fotos herauslesen lässt, geht häufig über das hinaus, was auf ihnen abgebildet ist, also auch hier schon der doppelte Boden, die Suche nach dem, was über das Offensichtliche hinausgeht. In einem Interview äußerte Chaves, dass er mit seinen Gedichten in einen Dialog mit dem Leser treten möchte, dass er demjenigen, der etwas sucht, die Möglichkeit geben möchte, es vielleicht in seinen Gedichten zu finden.

Das mag wie eine Binsenweisheit klingen, aber ich denke, es ist eine klare Positionierung in einer Zeit, in der es eine Vielzahl an poetischen Ansätzen gibt. Chaves geht es um Inhalte und er sieht keine klaren Grenzen zwischen Lyrik und Prosa. Eher zwischen Oberfläche und Tiefe.

Den Auftakt macht das Gedicht „ Die Frauen des Hauses“. Hier geht es um einen Verzicht. Denn erst durch das Löschen der Zeilen, die vielleicht nicht verkehrt waren, aber eben auch nicht wirklich wichtig für das Gedicht, das zu schreiben war, geht eine Erkenntnis einher. Wird etwas sichtbar, was zuvor verborgen gewesen ist.

         „Nur noch der schimmernde Bildschirm
         in einem dunklen Zimmer
         und drei Herzen, die schlagen
         mit der langsamen Frequenz
         der Träume.“

Während im Gedicht „Umzüge“, oberflächlich betrachtet, in zehn Kapiteln die Geschichte eines Umzugs erzählt wird, zeigt Chaves tatsächlich einen Lebenslauf, den Wechsel von einer Behausung in die nächste, aber vor allem die Lücken, die man mit etwas Glück findet, um auszuruhen, vielleicht sogar heimisch zu werden, diesen Moment des Gleichgewichts der Möglichkeiten, bevor etwas entschieden wird, und wie schnell solche Augenblicke vorbei sind, wie leicht man sie verpasst:

„ein falscher Zeitpunkt für einen Umzug
das Gehirn: Knetmasse
das Herz: zwei Autotüren
die sich nur zuschlagen lassen.

Hier drunter liegt ein Lied
auch wenn man es weder hört, noch sieht.

Die Verheißungen des neuen Zuhauses
sind in dem alten geblieben.

Vom Unwetter bleibt jene Farbe zurück
alle Knetmassestangen zusammen

die sich vermischen und vermischen
die Hammerschläge, die eine entschlossene

Flucht verhindern
die Regentropfen

die Arterien eines Fensters gleichen.
Und der Gesang der Grillen

schwillt an wie der Nebel.
Hier drunter liegt was Besseres.“

Es gibt eine Menge Oberflächen in diesem Gedichtband, oder, anders gesagt, jedes, der gut aufeinander abgestimmten Gedichte, hat eine sofort greifbare Oberfläche, aber gleichzeitig lösen sie das Versprechen des Titels ein, dass darunter etwas noch Besseres ist. Und natürlich ist es Chaves, der uns ermöglicht, es zu greifen, einen Blick darauf zu werfen, der es für uns ausgräbt.

Wenn Chaves von der Familie als „Organismus der bei der natürlichen Auslese das Nachsehen hat.“spricht, mag das erst einmal sehr pessimistisch klingen, aber Chaves belässt es nicht bei dieser entmutigenden Aussage.

Denn was man erbt ist manchmal auch die Möglichkeit über all das Überlieferte, über die Traditionen hinweg zu sehen, oder unter deren Oberfläche vorzudringen, mit einem

„Körperteil
der keiner Biologie gehorcht.“

Und diejenigen, die immer etwas „Besseres“ für uns gewollt haben, sehen ihre Erwartungen scheitern. Wir aber bleiben zurück mit Erbschaften von Klassenneid und der Veranlagung zu Magenkrebs. Aber auch mit Gedichten, die sichtbar machen, was unter der Oberfläche liegt.

Chaves arbeite in dem Bewusstsein mit Sprache, dass sie zwar die Oberfläche bildet, aber mittels der Poesie gleichzeitig die Möglichkeit bereitstellt, sichtbar zu machen, was unter den Konventionen und Oberflächlichkeiten liegt.

Letztendlich geht es darum, alles Überflüssige zu löschen, die neue Ordnung in der vermeintlichen Ordnung zwischen den Umzugskartons zu sehen, um zu entdecken, was dem allen zugrunde liegt. Dieser bessere Kern, der womöglich in allem steckt, wenn man nur tief genug gräbt.

Luis Chaves
Hier drunter liegt was Besseres
Debajo de esto hay algo mejor
Übersetzung:
Timo Berger
Übersetzt aus dem costa-ricanischen Spanisch
hochroth
2013 · 34 Seiten · 6,00 Euro
ISBN:
978-3-902871-38-1

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