Ausgezehrt
In der allerkürzesten Kurzfassung können wir konstatieren, dass "Hagard" ein Roman über die akute soziale Abstiegspanik des deutschsprachigen gebildeten Bürgertums ist; in dessen Hallraum irgendwo die Frage nachklingt, wofür man sich nochmal den ganzen Bildungsballast angeeignet und die ganze Selbstdressur geleistet hat, wenn nun plötzlich überall die Loser aus ihren Loser-Löchern kriechen und die Agenden bestimmen, Trumpisten und Mahnwachler allüberall und keine Spur mehr von den Zukünften, die einem versprochen wurden …
… das wird aber alles nicht so direkt ausgesprochen. Stattdessen beginnt der Roman damit, uns über den Sachverhalt aufzuklären, dass Icherzähler und Protagonist nicht übereinstimmen:
Seit viel zu langer Zeit versuche ich, Philips Geschichte zu verstehen. Ich will das Geheimnis lüften, das in ihr verborgen ist.
Der zweite Sachverhalt, den wir registrieren, ist dann eine gewisse beflissene Geschwätzigkeit des Erzählers:
Ein ums andere Mal bin ich gescheitert und konnte das Rätsel jener Bilder nicht entschlüsseln, die mich heimsuchen, Bilder der Grausamkeit und der Komik, wie in jeder Erzählung, in der das Begehren auf den Tod trifft.
Es stellen übrigens diese drei Sätze den kompletten Umfang des Einleitungsabsatzes dar. Auf den 174 Seiten, die ihm folgen, wird das implizite Rätsel – wie der Erzähler und Philips sich zueinander verhalten – nicht eindeutig gelöst und noch nicht einmal richtig beim Namen genannt werden, aber doch einen Gutteil der Spannung generieren, die uns auf bei der Stange der Handlung hält. Ist "Ich" am Ende schlicht "der ontische Autor", den eine einmal ersonnene Story nicht mehr "auslässt"? – Es gibt ein-zwei Textstellen, die das nahelegen. Was an Handlung geschieht, ist ungefähr dieses: Ein mäßig erfolgreicher Geschäftstyp fasst völlig ansatzlos und spontan den Entschluss, einer bestimmten, ihm unbekannten Frau zu folgen (im Sinn von: hinter ihr her zu gehen); aus diesem Entschluss resultiert die völlige Implosion seiner Existenz, sagen wir: seine Penner-Werdung.
Die Lösung des anderen, des in den allerersten Sätzen schon explizierten Rätsels – "Welches Geheimnis ist in Philips Geschichte verborgen?" – wird im Gegensatz dazu beinahe sofort ausgeplaudert; fast könnte man sagen, jeder Satz, der nicht unmittelbar Philips Weg in den Ruin beschreibt, ist eine Variante dieser Lösung: So eine Geschichte könne sich auf die geschilderte Weise nur abspielen in einer Welt, die komplett aus den Fugen ist, der die Zukunft abhandengekommen ist und in der sich jeder Wertekanon autokannibalisiert hat – ohne dass das freilich von den Weltinsassen schon bemerkt worden wäre. Philip selbst, wie er uns auf den ersten grob fünfzig Seiten vorgestellt wird, repräsentiert praktisch wie symbolisch jenen zusehends schrumpfenden gesellschaftlichen Bereich, in dem "im Westen" überhaupt noch so etwas wie gesellschaftliche Bewegung, Aufstieg-Abstieg-Weltveränderung möglich ist (er ist ungefähr "Immobilienentwickler"); Bewegung, die aus einer gewissen Distanz nach haltlosem Strampeln über einem Abgrund aussieht … "Des Rätsels Lösung" ist dann, dass Philip einen Moment lang aufhört, zu strampeln, und nun den Preis dafür bezahlt.
Ungefähr die Hälfte des Textes besteht aus ausufernden Schilderungen aller möglichen Details, die "uns im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert" – also: Philip auf seiner Höllenfahrt – umgeben. Diese Schilderungen von Gegenständen, Szenerien und kulturellen Praktiken sind zwar kenntnisreich und sorgfältig darauf hin abgestimmt, um dem Text ein Sciencefiction- oder young-adult-Dystopie-Hintergrundrauschen zu verleihen, sind aber dann doch ein wenig zu eindeutig, zu didaktisch, zu firm am Bildungskanon des durchschnittlichen NZ- oder FAZ-Lesers hochgezogen, um diese Wirkung voll zu entfalten.
Das hat auch mit der zweiten Eigenschaft dieser Exkurse zu tun … nein – "Exkurse" stimmt nicht; ein "Exkurs" ist ein längeres Textstück, das irgendwo hineinragt; hier haben wir es mit einer permanenten Amplitude zu tun, zwischen einerseits allgemeiner Reflexion über den Zustand der Welt, und andererseits der Handlung, dem Untergang des Immobilientypen auf den Spuren der blauen Blume Schuhe. … also nochmal: Dass wir die kulturkritischen Einlassungen bzw. die kenntnisreich hinter der Handlung schwebende Geschwätzigkeit des Icherzählers nicht so recht ernst nehmen können, wenn sie uns das Ganze als "Gegenwarts-SciFi" verkaufen will, hat nicht nur mit den manifesten Inhalten dieser Einlassungen zu tun, sondern auch und vor allem mit ihrem offensichtlich intertextuellen Charakter:
Von Sacher-Masoch über Tieck, von Melvilles "Moby Dick" bis Gibsons "Mustererkennung", von Kafka bis Joseph Conrad wird da einiges angestupst, das den Niedergang der Moderne bzw. eine Dialektik von "Fortschritt und Barbarei" und Ähnliches zum Gegenstand hat (alles Texte, die nicht über den bürgerlichliberalen Grundkonsens hinauskommen, und wenn sie sein Scheitern hundertmal vollziehen). Nicht, dass Bärfuss das an die große Glocke hängen würde, aber da wir die intertextuellen Stellen einmal mit-lesen, können wir nicht mehr damit aufhören, intertextuell zu denken - und dann fällt uns eben, siehe oben, auch die Großformats-Feuilletonlastigkeit der Inhaltsebene deutlich auf.
Mit allem diesem ist erstens gesagt, dass "Hagard" als plausibler literarischer Kommentar zur beginnenden Trump-Ära gelten darf und es mithin einen guten Grund für seine Nominierung zum Buchmesse-Preis gibt; zweitens, dass das Buch fehlerfrei "gut geschrieben", nicht ohne Unterhaltungswert und sehr klug ist; und drittens, dass ein bisschen weniger Erzählökonomie oder ein bisschen weniger strenges Lektorat dem Text wahrscheinlich sehr, sehr gut getan hätte … wer weiß: Wäre "Hagard" nicht ganz so klar festgezurrt am Bildungs- und Wertekanon eines liberalen Bürgertums, das seine Felle gerade richtigerweise davonschwimmen sieht – vielleicht würde ich dann schimpfen, der Text "ufere aus" oder so ähnlich? Ich denke nicht. Ich denke, er wäre labyrinthischer, weniger didaktisch, und ich hätte entsprechend noch mehr Spaß dran.
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