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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

"Zersonnte Cocktailschirmchen, Katakomben..."

"And let the goblin out": STILL 4 ("new photography & writing") ist erschienen
Hamburg

Es ist Timo Brandt, unser üblicher Verdächtiger zum Besprechen von Literaturzeitschriften, im vorliegenden Fall von STILL Nummer 4 leider verhindert, weil selbst im Heft vertreten. Sein Beitrag, "ANLEITUNG ZUM ÜBERLEBEN" -- eine Montage (vor allem) aus vorgefundenem Videospiel(er)- und PR-Geplapper -- kommt früh in dem umfangreichen Textheft (das sich zum Fotografieheft als zweite Hälfte eines Ganzen gesellt) dran und bietet ein recht gutes Beispiel für eine bestimmte Art der Zweischneidigkeit, wie sie mir in diesem STILL noch öfter unterkommen wird:

Sobald ein Spieler sein Gerät aktiviert, rücke mit ihm vor! Es ist besser während einer Quest zu sterben, als nie auf eine Quest gegangen zu sein. Gib vorrückenden Mitgliedern in jedem Fall Feuerschutz.

(...)

:There is no Cow Level

Double the gun and double the fun!
You were almost killed by a sandwich.
"Who said anything about hiding?!"

The cake is a lie!

..Wow, krass, Chili brennt ja zweimal!
It's better to reign in hell, then serve in heaven, Dude!
"I think we just broke about 50 Combine regulations..."
...
"Onkle Urdnot hat ein Geschenk für dich!"

(...)

Zweischneidigkeit, denn:

Einerseits bietet diese Verfahrensweise, auch wenn sie leistet, was ihr als Soll aufgegeben ist, wenig Erkenntniswert. Man montiert eine Kunstsprache so, dass das Auseinanderklaffen deutlich wird zwischen der ästhetischen Wirklichkeit, in der ein soziales Phänomen diskursiv verarbeitet werden kann, und der Wirklichkeit dieses Phänomens anderswo; Gamerjargon überm Egoshooter hüben -- tatsächliches Geballer in den Kriegen zwischen Syrien und Hindukusch drüben; ... sieh an, da entdeckt man doch so etwas wie eine ideologische Funktion von sprachlicher Praxis; ... da entpuppt sich, wer hätte das gedacht, die ideologische Sphäre als Selbstläufer und ihrerseits wirkmächtige soziale Praxis ... Nichts ganz Neues also, und, so könnte man (wie gesagt, bei vielen der Texte in dieser Ausgabe) monieren: Nicht unbedingt den Aufwand für Autor und für LeserInnen wert...

Aaaber andererseits: Nimmt auf dem Wege zu jener Erkenntnis der Text (und wieder: nicht nur dieser eine) ganz entschieden die Panoramaroute; und wie er die so vielen Möglichkeiten seines Materials abfeiert und ausstellt ... Themen hin oder her -- drüber *lesen* tun wir hier zum Spass, und er, der Spass, wird ernstgenommen.

Es ist dieses Einerseits-Andererseits, welches das ganze Heft für mich bestimmt (und wohlgemerkt, ich beschränke mich hier auf eine Rezension des Literaturteils; von Fotos habe ich keine Ahnung bzw. weiß gerade noch, dass es welche in Farbe und welche in Schwarzweiß gibt, und, dass manche anscheinend toll sind, obwohl man gar nichts auf ihnen erkennen kann...), und zwar ungefähr entlang dieses folgenden Rezeptionsdreischritts:

Schritt eins - die ganze Wucht der zeitgenössischen Stilmittel, Formen und Referenzfelder ist in dem Heft aufgeboten, bei angenehm spürbarer, flächendeckender Abwesenheit des bekannt scheinnaiven, absichtlich vormodernen Bildungsbürgerkäses. Das beeindruckt mich, stiftet Interesse.

Schritt zwei - auweia! Die Texte *wollen* alle etwas von mir; sie tragen Empörungen bzw. essayhafte Thesen *darüber, wie es wirklich ist* vor sich her, und die wollen sie mir mit den (wie gesagt, Tipptop-) Mitteln ihrer Formensprache nahebringen... Das schreckt mich ab.

(Wenn dann welche dabei sind, die allem Augenschein nach doch nichts Bestimmtes wollen, macht mich das in jenem Kontext nur umso misstrauischer -- ein Widerstand, den etwa die sehr sexy Shortstory "Fuzzy" von Kate Jayroe oder das formulaische Langgedicht "OPEK KAMERA" von Hannes Bajohr mit Verve überwinden konnten.)

Schritt drei - ich kann mich ja aber dieser Formensprachen trotzdem erfreuen. Hurra. Und wie viel davon hier herumliegt..

Eine Erwähnung wert ist neben allem diesem die Insistenz des Projekts STILL auf seine Mehrsprachigkeit, und das meint nicht nur die Wiedergabe möglichst vieler Texte in Deutsch und Englisch (und die Redaktions-Zweitadresse in Brooklyn); sondern auch Texte wie jenen eindrucksvollen, vielsprachigen von Katia S. Ditzler, der auch ansonsten, siehe oben, voll auf der Linie des restlichen Hefts liegt:

UND MORGEN WERDEN WIR IN SHYMKENT SEIN
URAL'SK-SHYKMENT. 16./17.09.2014

und morgen werden wir in shymkent sein
kamasiz, mit artur, timur, ajdar, gennadij, danil und sultan
und am rande des                        unterirdischen meeres bauen wir eine magistrale
                                     warum trägt der fahrer, der gute danil, häkelhemden auf prallfleisch, ist ihm nicht kalt
hätte ich ein messer würde ich
etwas aus dem schulterblatt
dieses dreifachen vaters schneiden
stattdessen lese ich aus langeweile anais nin
gidiyorum           gündüz gece           gündüz gece           gündüz gece
                      vay
(...)

Alles in allem: STILL 4 ist dicht gefüllt mit Literatur, die ästhetisch un-blöd ist und zugleich meist "welthaltig" in einem weiteren Sinne sein will; das zweiteres gelegentlich zu Lasten des ersteren geht, vergibt man angesichts der bruchlos durchgehaltenen Höhe des Niveaus gerne.

*
 

Autoren dieser Ausgabe: Niklas Bardeli, Timo Brandt, Katy Derbyshire, Katia S. Ditzler, Dorothee Elminger, Marius Goldhorn, Alexander Gumz, Catherine Hales, Johanna Hoffmann, Julia Jarcho, Kate Jayroe, Alexander Kappe, Simone Kornappel, Birgit Kreipe, Martin Lechner, Pega Mund, Ferdinand Schmalz, Jake Schneider, Joel Scott, Cathrin Stadler, Christoph Szalay, Charlotte Thiessen, Martin Walser, Charlotte Warsen, Florian Weigl, Julia Wolf, Michael Wolf, Janin Wölke

Marc Holzenbecher (Hg.) · Nike Marquardt (Hg.)
STILL 4
new photography & writing
STILL
2016 · 116 Seiten · 15,00 Euro
ISBN:
ISSN 2196-4580

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