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Kritik

Täter, Opfer, Literaten

Dass der Berliner Verlag Matthes & Seitz „schon immer etwas exzentrisch nach Frankreich“ ausgerichtet ist, wie Helmut Böttiger auf den Internetseiten von Deutschlandradio Kultur schreibt, ist das große Glück vieler Leser im deutschsprachigen Raum. Kaum ein anderes Haus hat sich um die Zugänglichkeit moderner Klassiker aus der Grande Nation ähnlich verdient gemacht. Da erscheint es nur logisch, dass dort mit Die Bestie von Paris nun einige Reportagen von Marie-Luise Scherer neu aufgelegt werden.

Marie-Luise Scherer, die hier und da auch schon mal als „Göttin der Reportage“ bezeichnet wird, wurde 1938 in Saarbrücken geboren. In den Jahren von 1974 bis 1998 schrieb sie literarische Reportagen für den SPIEGEL, in denen sie über zahlreiche französische Themen berichtete. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem zweimal mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, dem Ludwig-Börne- und dem Heinrich-Mann-Preis. Im Jahr 2004 erschien im Verlag Die Andere Bibliothek ein bibliophiler Sammelband ihrer „wahre[n] Geschichten aus vier Jahrzehnten“ mit dem Titel Der Akkordeonspieler, der längst nicht mehr lieferbar ist. Die Bestie von Paris versammelt vier der darin enthaltenen Reportagen und fügt sie mehr oder weniger thematisch zusammen. Immer steht das Leben(in?) der Seine-Metropole im Vordergrund, wobei dieses aus völlig unterschiedlichen Milieus heraus beleuchtet wird.

Die titelgebende Geschichte zeichnet den berühmten Pariser Kriminalfall um den Serienmörder Thierry Paulin nach. Zwischen 1984 und 1987 beging er, in einigen Fällen auch unter Mithilfe eines Komplizen, 21 Raubmorde an alten Damen, wobei sich die Beute meist nur auf einige hundert Francs belief. Der auf der Karibikinsel Martinique geborene Paulin arbeitete als Kellner und Travestiekünstler. Die spärliche Beute diente als zusätzliche Finanzierung seines aufwändigen Lebensstils im Pariser Homosexuellenmilieu. Marie-Luise Scherer beschreibt die sozialen Hintergründe des Mörders, der sich immer als ungeliebtes Anhängsel gefühlt hat, ohne dabei den Status des kaltblütigen Verbrechers zu verkennen. Paulins Strategie ist meist dieselbe: Er wählt zufällig eine alte Dame aus, folgt ihr durch die Straßen von Montmartre, stellt sie an ihrer Wohnungstür und ersticht, erschlägt oder erdrosselt sein Opfer auf brutalste Weise.

Für die Beschreibung der Tathergänge, wie für die detailliert recherchierten und wiedergegebenen Lebensumstände Paulins, bedient sich Scherer eines simplen stilistischen Tricks, der immer wieder Begeisterungsstürme in allen großen Feuilletons auslöst. Scherer berichtet über den Fall auf 70 Seiten mit der kalten Distanziertheit einer Reporterin, die dem Mörder wie ein camera-eye gefolgt ist, um alles zu erfahren, aber nichts zu werten. Es mag sein, dass dies die einzig adäquate Weise ist mit einer solchen Story umzugehen. Doch so aufregend sich diese Vorgehensweise in der Theorie anlässt, so langweilig schlägt sie sich im Text nieder. Die Bestie von Paris ist ein ganz und gar monotoner Text, der die Morde an den über 20 alten Damen abhandelt wie der Täter selbst. Als Reportage kann der Text durch seine brillante Recherche punkten. Als Story bleibt er dem Leser jedoch jedweden Spannungsbogen schuldig. So liest sich Die Bestie von Paris letztendlich wie der Polizeibericht der französischen Behörden, nicht aber wie eine göttliche Reportage.

 
André Breton, 1924 Louis Aragon, Marcel Proust um 1900 Quelle: Wikipedia

Ganz anders präsentieren sich hingegen Der letzte Surrealist und Dinge über Monsieur Proust. Beide Texte werfen einen hintergründigen Blick auf das literarische Paris der Klassischen Moderne, das spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die zentrale Keimzelle der künstlerischen Avantgarde darstellte. Auf der Grundlage ausführlicher Gespräche mit dem Schriftsteller und Journalisten Philippe Soupault, der als einer der wichtigsten Initiatoren des Surrealismus angesehen werden kann, entwirft Scherer zunächst ein faszinierendes Portrait des Kreises um André Breton und Louis Aragon. Mit viel Witz und wiederum akribischer Recherche stellt die Autorin heraus, dass die Gruppe der Surrealisten bereits vor ihrer ersten öffentlichen Manifestation im Jahre 1924 ein zerstrittener Haufen war, der an den Rändern ausfranste. Breton ist geltungssüchtig, Aragon oft gar nicht in der Stadt, Cocteau ein unbeliebter Intrigant, Dalí ein Mitläufer, der beizeiten den Ausverkauf des Surrealismus einläutet. Soupault scheint in dieser Gesellschaft der einzige Sympath zu sein, der, so beschreibt es Scherer, eine fast mitleiderregende Gutmütigkeit mit den Exzentrikern um ihn herum an den Tag legte. Das hindert ihn jedoch nicht daran, hin und wieder auch wenig schmeichelhafte Urteile über die Kollegen von weltliterarischem Rang zu fällen. So sagt er über Proust und Joyce, mit denen er bekannt war, sie seien mit ihrem „Œuvre einer Religion beigetreten. Sie waren wirklich Kranke, Opfer ihrer außergewöhnlichen Bücher.“

Um Marcel Proust bzw. um die Verfilmung von Eine Liebe von Swann durch Volker Schlöndorff, geht es in einer weiteren Reportage, die vor allem durch die schonungslose, aber keineswegs aufdringliche Entlarvung der exaltierten Pariser Oberschicht punktet. Dass Schlöndorff seine Statistenrollen zum Teil mit eben jener Oberschicht besetzt hat, ist –  so suggeriert es mir Scherers Text – das einzig geniale an diesem Film. Darüber hinaus erfährt man aber auch, wie der proustsche Stil des Nicht-auf-den-Punkt-Kommens zu Stande kam.

„Bei einem Diner im Ritz, zu dem Proust zusammen mit der Prinzessin Soutzo im März 1919 von Harold Nicolson, englischer Delegationsteilnehmer der Pariser Friedensverhandlungen, eingeladen war, machte er den Engländer durch sein detailbesessenes Fragen über dessen Arbeit nervös. Proust unterbrach Nicolson schon nach dem Satz: ‚Wie treffen uns gewöhnlich um 10 Uhr morgens‘ und sagte: ‚Nein, das geht viel zu schnell, fangen Sie noch einmal an. Sie fahren mit dem Dienstauto, Sie steigen am Quai d’Orsay aus, Sie gehen die Treppe hinauf, Sie treten in den Konferenzraum ein. Was geschieht dann?‘ Nicolson berichtete dann alles diesem weißen, unrasierten, schmierigen Dinergast, wie er sich über Proust äußerte.“

Exaltiertheiten und Extravaganz stehen auch in der letzten Reportage des Bandes im Mittelpunkt. Kleine Schreie des Wiedersehens gibt einen Einblick in die Pariser Modewelt. Allerdings leistet dieser Text nicht viel mehr als die Vorurteile branchenferner Leser zu bestätigen. Mit der ironischen Distanz, die sich für das Thema geradezu aufdrängt, berichtet Scherer von der Pariser Fashion Week, von der es eigentlich kaum etwas zu berichten gibt, als dass es hier nicht mehr um Mode geht, sondern ums sehen und gesehen werden. Die Enttäuschung der Autorin überträgt sich dabei merklich auf den Leser. „Das Erlebnis von acht Tagen Mode flacht gegen Ende zu einer geräuschvollen Eintönigkeit ab. Dann freut man sich über einen Zwischenfall wie diesen: Im Hotel Inter-Continental an der Rue de Castiglione, Ecke Rue de Rivoli, in dem viele Modeleute wohnen, wurde die Suite eines Scheichs von dessen Jagdfalken zerhackt.“ Na, wenn das nichts ist.

Marie-Luise Scherer
Die Bestie von Paris und andere Geschichten
Matthes & Seitz
2012 · 151 Seiten · 16,90 Euro
ISBN:
978-3-882219661

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