Über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus
43 Muskeln. Die sind entscheidend. Eines von Marie T. Martins Gedichten beginnt so: »43 Muskeln bewegen sich wenn du lächelst (…)«.
Zu lächeln gibt es einiges bei Marie T. Martin. Nach ihrem erzählerischen Debüt »Luftpost« und ihrem Lyrikdebüt »Wisperzimmer«, nach Hörspiel und Musiktheaterstück, ist nun wieder ein Prosabuch von der 1982 geborenen, in Köln lebenden Autorin herausgekommen: »Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen?« Das 80 Seiten schmale Bändchen enthält Texte einer Form, die Marie T. Martin sehr mag, die aber jenseits von allem liegt, was Marktstrategen und Merchandisingexperten mögen: Miniaturen. Um so höher ist es dem Poetenladen-Verlag anzurechnen, daß er diese Geschichten herausgebracht hat.
Diese Kleinstgeschichten. Sie sind alle nur so lang wie längere Absätze, die beiden kürzesten kommen auf bloß vier Zeilen. Eine von ihnen heißt »Unser Haus« und geht so:
In unserem Haus muss man klingeln, wenn man hinauswill. Hinein kommt man immer, doch ob man hinausdarf, hängt von der Stimmung des Hauses ab. Manchmal hält es einen drinnen fest, da hilft auch kein Schreien.
Marie T. Martin erzählt Alltägliches, das eine Spur aus dem Ruder läuft. Von Onkel Tobias, der sich immer sonntags für eine Weile in ein Krokodil verwandelt. Von der Schaufensterpuppe, die im Fundbüro abgegeben wird, sich – im Sinne des Wortes – entpuppt, und zwar als lebendige Frau, die nun im Keller auf die jährliche Versteigerung warten muß. Vom Friseur, der seiner Kundin, statt ihr die Haare nur zu schneiden, ungefragt die Frisur einfärbt, weil er gerade neue Farbe bekommen hat.
Da kommen dann oft die 43 Muskeln zum Einsatz. Es gibt sehr witzige Stellen in den zu thematischen Zyklen gruppierten Texten, etwa den in den neun Stücken zur »Textilen Genealogie«, in dem die Großmutter der Enkelin ein Kleid näht, die Oberweite nach der eigenen als voluminös einschätzt, sich dabei schwer verkalkuliert und dann trocken sagt: »Da wächst du hinein.«
Doch es wäre völlig verfehlt, die Miniaturen nur als amüsant oder gar als naiv hinzustellen. Im selben Zyklus erzählt Text Nummer sieben unter anderem davon, daß die Eltern des Kindes nicht zur Kirche gehen und keinem Verein im Ort angehören und der Vater wegen chronischer Nebenhöhlenentzündung immer eine Wollmütze trägt. Und da fragt ein Junge: »Seid ihr eigentlich Juden?« Zwischen den paar Zeilen scheint plötzlich nicht nur die dörfliche Dummdreistigkeit auf, sondern auch eine unterschwellige Bedrohung.
Sehr poetische Stücke gelingen der jungen Autorin, die übrigens bereits einen ganzen Armvoll (Förder-)Preise eingesammelt hat, etwa das von dem Jungen, der, weil unartig, in ein dunkles Zimmer gesperrt wurde, weswegen sein Haut immer dunkler wurde und er schließlich Schornsteinfeger werden mußte. Oder die Geschichte des Mädchens das sich auflöst, wenn man genau hinsieht. Hinter all diesen Texten steckt – außer der Freude am Erzählen und Phantasieren – die Offenheit für die Ebenen unter- und oberhalb und jenseits der sogenannten Realität, die eben diese Realität um ein Vielfaches erweitern. Wofür die meisten von uns längst die Wahrnehmungsfähigkeit verloren haben.
Marie T. Martin ermöglicht es uns, daß wir uns dem wieder annähern. Kongenial begleitet übrigens von den Illustrationen der Graphikerin Ulrike Steinke. Es sind Bilder, die wie Kinderzeichnungen daherkommen, aber die Blicke über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus bestmöglich aufnehmen. Und weitertragen.
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