Kurzparabeln der Zeit
Dass sich der Aphorismus – das "abgenagte, schaurigschöne Skelett eines Gedankens" (Klaus D. Koch) – in der Schweiz fest etabliert hat, zeigen nicht nur klassische Gattungsvertreter wie Erich Brock, Max Rychner, Charles Tschopp, Ludwig Hohl und Hans Albrecht Moser. Vielmehr wird er dort auch von Gegenwartsliteraten geschätzt. Ob als Turbulenzen (Rolf Dobelli), Pfeilspitzen (Anke Maggauer-Kirsche), Gedankensprünge (Ernst Reinhardt), Verleisbarungen (Beat Rink) oder Zeit-Zeichen (Felix Renner) – seit einigen Jahren erscheinen in der Eidgenossenschaft immer mehr Sprüchesammlungen, so dass man schon fast von einem Boom der 'kleinen Form' sprechen kann.
Zu den Schweizer Schriftstellern, die sich dem Genre in besonderem Maße verbunden fühlen, zählt der Zürcher Martin Liechti (Jg. 1939). Von Hause aus Romancier und Hörspielautor, hat er im Mai 2010 seinen sechsten Kurzprosaband veröffentlicht. Er trägt den Titel Im Fluss… Aphorismen + Notate, umfasst 130 Seiten und ist für 28 CHF (= 21,50 Euro) beim Littera Verlag erhältlich. Analog zu vorangegangenen Publikationen, darunter Sätze und Ansätze (2002), Vor- und Nachgedachtes (2005) sowie Wort- und Kopfsprünge (2008), gliedert sich das Buch in 87 alphabetisch angeordnete Kapitel, die ihrerseits aus drei bis zehn Reflexionen bestehen. Das strenge Ordnungsprinzip wird jedoch dadurch unterlaufen, dass die einzelnen Beiträge thematisch nur lose miteinander verknüpft sind. Anstatt den Gegenstand − z.B. "Befremdliches" oder "Gemeinschaft" − systematisch zu analysieren, betrachten sie ihn aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Am auffälligsten ist dies in den durch "Oder:" verbundenen Gedanken-Variationen: "Gross ist der Zweifel in der Welt: tausend kleine Zweifel an sich selbst. Oder: Gross ist der Zweifel in der Welt, lauter kleine Zweifel an sich selbst" (S. 99). Daneben sticht die formale Vielfalt ins Auge, die vom wortspielerischen Einzeiler – "Die Aufrichtigkeit richtet dich auf" (S. 51) – über die Maxime – "Skepsis als Grundhaltung, Bewegung als Ausweg" (S. 17) – bis zur kafkaesken Kurzparabel reicht: "Der Grenzreiter langte mittags an und berichtete, dass weit draussen die Ränder einbrachen. Die Stadt verschloss ihre Tore" (S. 7). Ein solcher Abwechslungsreichtum verleiht dem Band einen dynamischen Charakter, was mit dem Titel korrespondiert, der in Anlehnung an Heraklit das stetige Verfließen des Seins betont.
Kein Wunder also, dass der im 'Herbst des Lebens' stehende Verfasser – "Die Blätter fallen. Wir können einander sehen, der Tod und ich" (S. 127) – bevorzugt auf Existentialien wie das Altern, das Vergessen und den Verlust eingeht. Darüber hinaus stellt er psychologische Überlegungen an, wobei er zu dem Schluss kommt, dass man vor dem Spiegel frei, in ihm hingegen gefangen ist (vgl. S. 21) und dass die Sorgen unser Dasein überhöhen, weil sie ihm den traurigen Anstrich von Bedeutung geben (vgl. S. 14). Auch Charakterschwächen nimmt Liechti unter die Lupe, insbesondere die Eigenliebe – "Wer sich rechtfertigt, wird rasch geschwätzig" (S. 77) – sowie die Habgier: "Viel ist für viele zu wenig, wenig für wenige zuviel" (S.81). Im Gegensatz zu den französischen Moralisten lässt er seine Beobachtungen jedoch in dialektische Aussagen einmünden: "Was zuviel ist, trägt schon den Mangel in sich" (S. 71). Hier wird der Einfluss von Elazar Benyoëtz deutlich, auf den sich der Autor im Klappentext ausdrücklich beruft. Wie sehr er den israelischen Aphoristiker verehrt, ist auf Seite 104 nachzulesen, wo er eine stilverwandte Sentenz präsentiert: "Alles was weltwo weltwas gilt, ist handkehrum nirgends irgendnoch."
Sie mag zwar als Hommage gedacht sein, doch stimmt sie misstrauisch. Wenn es nämlich anderen Schriftstellern so leicht fällt, Benyoëtz nachzuahmen, ist dessen viel gerühmte Rhetorik vielleicht nur eine Manier. Hierzu hält Liechti freilich Distanz, denn selbst in dem mit "Spielereien" überschriebenen Abschnitt gibt es keinerlei Wortgeklingel. Seine Stärke liegt darin, vorhandenen Ausdrücken neue Bedeutungen zu entlocken. Folglich ist er nicht auf artifizielle Inversionen und Neologismen angewiesen: "Man lebt nicht, um zu sterben, sondern dem Tod entgegen…" (S. 13). Hinzu kommt, dass er bei allem philosophischen Anspruch die Tagespolitik nie aus den Augen verliert. Demzufolge setzt er sich etwa intensiv mit der Swissness– "Die Verswissung der Schweiz ist eine fortschreitende Entzauberung, Selbstverleugnung und Selbstaufgabe" (S. 21) – oder der weltweiten Finanzkrise auseinander: "Dummdreiste Banker verpacken Risiken, bis sie im Glanze der Boni verblassen – und überlassen sie der Allgemeinheit" (S. 32).
Als ebenso wacher wie kritischer Geist bleibt Liechti auf der Höhe der Zeit. Im Fluss…ist sein bislang bester Band und ein weiterer Beweis für die Vitalität der Schweizer Gegenwartsaphoristik.
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