Roadmovie mit Hecht
Als sich im Sommer 2014 unzählige Menschen dazu entschlossen, Eiskübel über ihren Köpfen auszugießen und dies per YouTube zu dokumentieren, wird Matthias Jügler gerade in der entscheidenden Phase seines Romans gewesen sein. Wie er diese Kampagne zur Steigerung der Aufmerksamkeit für die Nervenkrankheit ALS beurteilt, ist nicht bekannt. In seinem Roman wählt er jedenfalls einen anderen, ungleich leiseren Weg, der den Umgang mit der nicht heilbaren Amyotrophen Lateralsklerose, früher auch als Lou-Gehrig-Syndrom bekannt, schildert.
In Raubfischen, dem Debütroman des 1984 in Halle an der Saale geborenen Matthias Jügler, der das Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig absolviert hat und auch als Übersetzer aus dem Norwegischen tätig ist, bricht die in den Medien oft als „tückisch“ umschriebene Krankheit ALS jäh in den Alltag des jungen Daniel ein. Sein Großvater, mit dem er viele Sommerurlaube in Schweden verbracht hat, zeigt immer stärkere Symptome der Nervenschwäche, kann nicht mehr essen, sich nicht mehr die Schuhe binden, nicht einmal mehr sprechen. Der ratlos-verzweifelte Umgang der Familie mit der Diagnose – Totschweigen, Verharmlosen – und die steigende Hilflosigkeit des Großvaters bilden die erste, starke Hälfte des Romans. Jügler geht sehr behutsam, niemals anklagend, vor und stellt feinfühlig die Perspektiven der verschiedenen Familienmitglieder auf die Krankheit dar. Vor allem zusammen mit seiner Mutter versucht sich Daniel an Strategien zur Bewältigung der neuen Situation; das verzweifelte Festhalten am Vergangenen, wie es die Großmutter versucht, wird erzählerisch dagegen fast schmerzlich detailliert klar gemacht.
Die zweite Hälfte des Romans ist ganz dem schwedischen Urlaubsidyll gewidmet, in das sich Daniel – fürs Erste in der Erinnerung – flüchtet: Wie er mit einem schwedischen Spielkameraden unbemerkt vom Großvater Hechte fischt, dann doch entdeckt wird, seine erste Ohrfeige erhält und sich im Groll schwört, nie mehr nach Schweden zurückzukehren: Hochemotional, aber auch in klarer Opposition zum immer schwächer werdenden Großvater stellt sich auf der Realität ein ideales Bild der Vergangenheit gegenüber, das, so Daniels bald reifender Plan, noch ein letztes Mal Wirklichkeit werden soll.
Matthias Jügler nimmt sich viel Zeit, die verschiedenen Stadien der Krankheit und ihre Auswirkungen auf die Familie auszumalen. Als es schließlich soweit ist, das der Großvater im Heim, schon lange nicht mehr zum Sprechen in der Lage, eine Magensonde eingesetzt bekommen soll, trifft Daniel die Entscheidung: Ein letztes Mal soll es nach Schweden gehen, in die Hütte, wo er mit seinem Großvater die schönsten Sommertage seines Lebens verbracht hat. Viel, vielleicht etwas zu viel Raum nehmen Reisevorbereitungen, Autofahrt und Fährenpassage nach Schweden ein; noch dazu wird dieser Teil mit Beschreibungen des Hechtfangs in direkter Rede des Großvaters durchmischt, an die sich der Erzähler erinnert. Jügler hegt eine Liebe fürs Detail, wie auch insgesamt das Buch stimmungsvoll mit Illustrationen aufgemacht ist, die das Thema Fischen in Kontext setzen. All dies unterstreicht noch mehr die Feinfühligkeit, mit der die Geschichte präsentiert wird, der beruhigende Sog der Erinnerung, der sich dem Leser unmittelbar mitteilt.
Denkt man etwa an ein anderes großes Roadmovie der jüngeren Literaturgeschichte, Ich und Kaminski von Daniel Kehlmann, wird hier die Beziehung zwischen dem jungen und dem alten Mann ungleich liebevoller und sorgsamer geschildert – statt des zynischen Journalisten, der aus purem Eigensinn handelt, ist es hier der treue Enkel, der seinem Großvater einen letzten Wunsch erfüllen will.
Die erzählerische Idee dieses Romans folgt jedoch indes einer kühnen Entscheidung, setzt sie doch stark auf die Krankheit als ein dramaturgisches Mittel, das das Vergehen der Zeit, das Erwachsenwerden und das Ende der Kindheit illustriert: Nicht nur aus Trauer, auch aus eigener Sentimentalität schwenkt Daniel im Erzählfluss immer wieder aufs Neue zu den schönen Erinnerungen mit seinem Großvater, erzählt von der Beziehung zu ihm und seiner Großmutter, den schwedischen Nachbarn und dem Sohn Henrik, mit dem er auch am Schluss wieder zusammentreffen wird. Erstaunlich wenig Raum nimmt da, als es dem Ende entgegen geht, noch die Rahmenhandlung ein: Der Großvater ist dank eines Beatmungsgeräts einigermaßen in der Lage, zusammen mit Daniel auf den See zu fahren, in dem sich die Hechte fangen lassen, wenig Aufschluss bietet diese Situation jedoch über das Gefühlsleben des Kranken – vielmehr scheint sich jetzt alles um Daniel zu drehen, der sich Puzzlestück um Puzzlestück seine eigene Geschichte zusammensetzt. So droht sich der Roman zusehends in Erinnerungsfetzen zu verlieren, verliert vor allem aber den starken emotionalen Zugang, den Daniel zu seinem Großvater gefunden hat, aus den Augen und richtet sich völlig auf das erzählerische Ausgestalten einer Welt aus Erinnerung und nostalgischer Gegenwart. Das eigentliche Thema, das Erwachsenwerden, das Ende der Kindheit und die Emanzipation von der Eltern- und Großelterngeneration, gerät, zum Leidwesen der ursprünglichen Thematik, in den Vordergrund – wodurch Jügler einige Chancen vergibt, während er vorgefertigten Mustern von Gegenwarts-, Familien- und Coming-of-age-Roman folgt. Ein Roadmovie mit Hecht, der dann leider doch zu schnell verblasst.
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