Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Die Familie als poetische Schatztruhe

Der Erzählband „Die letzte Nacht“ von Matthias Kehle
Hamburg

„Wenn du Hundefleisch gegessen hast, machen Köter einen Bogen um dich“, erzählt mein Onkeln Willi, „und zwar wochenlang.“

Auch mit einem derart wuchtigen Zitat kann eine Erzählung anfangen. Matthias Kehle beginnt seinen allerersten Erzählband mit diesem prägnanten Satz, einem souveränen, wirkungsbewussten Einstieg. Man kennt Kehle bislang eher als Poeten, der Gedichte schreibt, die einen präzisen Blick mit dem feinen Gespür für Wortökonomie paaren. Auch als Autor erfolgreicher Sachbücher ist der heimatverbundene Badener schon mehrfach hervorgetreten. Dass er hier mit der Sicherheit eines erfahrenen Erzählers in einem für ihn scheinbar neuen Genre auftritt, liegt ganz einfach daran, dass Erzählungen in Wahrheit eben nichts Neues für ihn sind. Er schreibt sie seit Jahren, auch einige aus diesem Band sind schon in Literaturzeitschriften und Magazinen erschienen. Der zweite Grund ist, dass Kehle seinen Stoff aus eigener Anschauung kennt, denn bis auf einige Ausnahmen sind alle Geschichten in seinem Familien-, Verwandten-, Nachbarn- und Bekanntenkreis angesiedelt. Mit diesem biographischen bzw. autobiographischen Erzählen befindet sich Kehle zurzeit in guter Gesellschaft, man denke nur an Maarten t’ Harts aktuellen Roman „Magdalena“, ein Mutterporträt ohne Weichzeichner, das dennoch viele skurrile Momente enthält. Oder Joachim Meyerhoffs tragikomische Familientrilogie, die gerade mit dem Roman „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ ihren würdigen Abschluss gefunden hat.

Doch ehe wir abschweifen: Was macht den eingangs zitierten Satz eigentlich so stark? Es ist weniger die Botschaft, das indirekte Bekenntnis des Onkels, Hundefleisch gegessen zu haben. Nein, es ist die Tatsache, dass mit diesem Zitat der unkonventionelle Charakter des Onkels auf Anhieb deutlich wird. Also starkes Statement und Charakterzeichnung in einem. Denn in dieser Erzählung mit dem Titel „Türkische Musik“ entpuppt sich Onkel Willi als ambivalentes Wesen. Einerseits als schwadronierendes Familienunikum mit Wampe, der seine Kriegserlebnisse anschaulich im Verwandtenkreis verbreitet, andererseits als zupackender Kerl mit dem Herz auf dem rechten Fleck, der seinem Neffen unkonventionell das Schwimmen beibringt. Die Gefahr, solche Familiengeschichten in Anekdoten und Schnurren zu ertränken, liegt dabei recht nahe. Kehle begegnet dieser Gefahr mit offenem Visier. Keine krampfhafte Klischeevermeidung, stattdessen Vertrauen in den eigenen, auf den ersten Blick nüchtern erscheinenden Sprachstil, der in Wahrheit der eigenen Wahrnehmung poetisch heimleuchtet. Dazu kommt das seismographisch präzise Gespür für das Komische im Alltäglichen. Das zeigt sich besonders schön in der zwölfseitigen Erzählung „Diaabend“. Der Diaabend, das kleinbürgerliche Familienevent der 60er und 70er Jahre, war normalerweise ein Grauen für die junge Generation. Hier ist es ganz anders: Der junge Ich-Erzähler hat sich nämlich in ein Mädchen verguckt, das auf den Dias von der Konfirmation der Cousine mit im Bild ist – sozusagen die Dritte von links. Und so drängt er die Erwachsenen immer öfter dazu, die Leinwand aufzubauen, um Dias zu schauen. Hier wird Konvention gekonnt gegen den Strich gebürstet. Ebenso in der Erzählung „Nordlichter“, wo ein weitläufig Bekannter aus Düsseldorf, heimlicher Schwarm der Mutter, sich am Ende als jemand ganz Anderes entpuppt.

Beschränkte sich der Band auf solche Episoden, könnte man ihn mit kritischem Blick als skurrile Familienaufstellung abtun, aber es ist die sprachliche Qualität der Erzählungen, die dieses Bild deutlich korrigiert. Besonders beeindruckend ist die Geschichte „Tante im Bett“. Sie beschreibt das traurige Leben der chronisch kranken Tante Wiltrud, die den Großteil ihres Lebens ans Bett gefesselt ist. Sie erzählt dem Neffen – und nur ihm – von der ersten und einzigen Liebe ihres Lebens. Geradezu meisterhaft indes ist die titelgebende Erzählung, die sich aus einer prägenden Erfahrung speist: dem allzu frühen Tod des Vaters. Der Vater stirbt mitten in der Nacht, der Notarzt ruft den Sohn an, er möge zur Mutter kommen. Der Sohn kommt mit dem Taxi und schon zu Beginn schildert Kehle ein Detail, dass die poetische Dimension dieser Erzählung verdeutlicht:

„Zieh die Schuhe aus und nimm die Hausschuhe deines Vaters“, sagte meine Mutter als Erstes, als allerersten Satz.

Die Mutter zitiert einfach eine praktische Hausregel und dennoch bekommt das In-die-Schuhe-des-Vaters-Schlüpfen angesichts des Todes ein ganz ungeheures Gewicht. Exzellent fängt Kehle die Stimmung ein, das Warten von Mutter und Sohn auf den Morgen, bevor der Trost des Praktischen einsetzen kann, das Anrufen des Bestatters usw. Oben im Schlafzimmer liegt der tote Vater und mal wird der Sohn von der Mutter, mal von der eigenen Scheu zurückgehalten, zu ihm hochzugehen und Abschied zu nehmen. Eine auf 18 Seiten großartig verdichtete Geschichte, die zeigt, dass familiäre Nähe und Tränen der Trauer den klaren Blick auf poetische Details nicht verstellen müssen. Jedenfalls erweist sich Matthias Kehle mit diesem Band als Erzähler, der es mit dem brillanten Lyriker Matthias Kehle auf Augenhöhe aufnehmen kann.

DIe letzte Nacht
Lindemanns Bibliothek
2015 · 160 Seiten · 14,80 Euro
ISBN:
978-3-88190-883-2

Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge