Wider das lyrische Fast Food
Überholen ohne einzuholen ist der bekannte und leicht undurchsichtige Slogan Walter Ulbrichts, mit dem er die Überlegenheit des DDR-Sozialismus der BRD gegenüber zum Ausdruck bringen wollte. Der Vergleich mit Maxim Amelins Lyrik hinkt hier zwar ein wenig, es ist aber dennoch die erste Assoziation, die beim Lesen in einem aufsteigt: hier geht einer über die Lyrikkonventionen seiner Zeitgenossen hinaus, in dem er sich weit zurückbesinnt und an jene russischen Autoren anknüpft, die mit Alexander Puschkin als überwunden und ein für alle Mal überholt galten.
Der 1970 in Kursk geboren Autor machte nicht nur durch seine eigenwillige Dichtung auf sich aufmerksam, er übertrug Pindars Oden und Catulls – recht überschaubares – Gesamtwerk neu ins Russische. Mit der Herausgabe der Werke von Dmitri Chwostow, Alexander Ismaljow und Sergej Neldichen setzte er ein deutliches Zeichen, indem er seiner Meinung nach zu Unrecht vergessene, oder wie im Falle Chwostows sogar belächelte Dichter literarisch restituierte. Bewusst setzt sein Kanon nicht bei Puschkin an, lässt diesen sogar außen vor, und sucht seinen Anknüpfungspunkt bei den lediglich zu Wegbereitern degradierten russischen Autoren des 18. Jahrhunderts.
Das Ergebnis dieser Neuverortung ist auf den ersten Blick recht befremdlich, die Sprache ist antikisierend, Archaismen aus dem Kirchenslawischen und kunstvolle Inversionen machen den Eindruck man läse dreihundert Jahre alte Gedichte. Die Leistung die der Übersetzer und Herausgeber Alexander Nitzberg durch eine adäquate Wiedergabe ins Deutsche zu leisten hatte ist ebenfalls bemerkenswert.
Und ich soll dreißig sein? Ich bin dreihundert!
Die zehnfache Erfahrung weiß mein Stift
nicht auszudrücken, weil er kaum verwundert,
kaum überzeugt und kaum ins Schwarze trifft,der Vers ist zäh und spröde, er verzweigt sich
im Licht, verwurzelt in der Dämmerung,
er trällert nicht drauf los, zu wenig zeigt sich
in ihm Struktur, Geschmeidigkeit und Schwung,in zwei konträre Teile aufgespalten,
der eine glühend und der andere kühl,
mir will die Seele vom Kalkül erkalten,
mir schmilzt vor lauter Seele das Kalkül,
Amelin geriert sich nicht nur als poeta doctus und poeta faber, als ein Gelehrter, dem handwerkliches Können und das absolute Beherrschen seiner Mittel ein Anliegen sind, ebenfalls soll unter diesem Kalkül nicht die Seele des Gedichts erdrückt werden, das organische, lebendige Ganze, das für ihn ein Kunstwerk erst gelungen macht. Wenn Klang und Inhalt sich verbinden zu dem, was weit über Text und Kontext hinausgeht. So versucht jedes Gedicht den Spagat zwischen strenger Form und unbändiger Seele zu wahren.
schon oft herabgestürzt, schon oft gestiegen,
zur Hälfte Vogel und zur Hälfte Lurch,
nicht gut im Kriechen und nicht gut im Fliegen,
zwar in der Luft, doch strampelnd häng ich durch,im trauten Kursk schweiß ich umher, wie Dante
im Paradiso, Moskaus fremder Sohn,
und treffe Menschen, die ich früher kannte,
und kenne keine einzige Person,geschwächt mein Augenlicht, das ehemals starke,
seit es in jenseitige Sphären stieß,
und wieder tret ich auf dieselbe Harke,
die ich im letzten Leben stehen ließ.
Selbstredend eckt Amelin mit dieser vollkommen aus der Zeit gefallenen Stilisierung an, steht als Kontrapunkt im unisono einer, wie auch im deutschsprachigen Lyrikraum, sich zunehmend der Alltagssprache annähernden, verknappten und zumeist auf jedwede Form und Zier verzichtenden Dichtung. Hier sieht sich Amelin bewusst als Revolutionär, der dem was er als lyrisches fast food bezeichnet, ein prächtiges Festgelage entgegenhält. Der Verknappung und Verarmung der lyrischen Sprache, den Hütten und Klohäuschen, hält er Paläste entgegen, oder eben auch einen Arkadentempel.
Ein Lyriker, der durch Rückbesinnung auf die poetischen Wurzeln seines Kultur- und Sprachkreises die Poesie erneuern will, ist in der Literaturgeschichte kein Novum. Horaz und auch der von Amelin übersetzte Catull haben das schon erfolgreich vorgemacht. So war das Moderne an Catull und den sogenannten Neoterikern gerade der Rückgriff auf die Wurzeln der Gattung in der griechischen Literatur. Oder man denke an den von Schiller ob der Länge seiner Gedichte getadelten und gegenwärtig derart gehypten Hölderlin. Überholen ohne einzuholen ist – zumindest im literarischen Bereich – nur ein scheinbarer Widerspruch, wenn es dieser Rückbesinnung gelingt, sich in der heutigen Zeit, also mit Gegenwartsmarkern im Text als zugleich rückbesonnen, aber ebenso brisant und aktuell zu positionieren. Das ist kein Anliegen der Amelinschen Poesie, die sich, vielleicht mit einem monumentalen Ewigkeitsanspruch, oder eben einer bestimmten Halbwertszeit von Lyrik verwehrend, ganz im Zeitlosen verankert.
Triumphliedchen
Der Speierling spreizt schon
die zweigenden Finger,
doch herrscht weder Rauhreif noch Frost –
Gefiederte picken
Getautes vom Abfall.
Ist niemand der ihrer gedenkt?Du Engel, wissend und weise,
im flammenden Lichtgewand:
Was tun mit der toten Meise
auf meiner gestreckten Hand?Nicht hören die Tauben,
nicht sehen die Blinden,
nicht reden die Stummen von ihr,
die alle mit Stürmen
erschüttert, besprengend
den Dreck und den schwankenden Schnee.Du Engel vom Paradiese
im flammenden Lichtgewand:
Was tun mit der toten Felice,
der Fürstlichen, die entschwand?
Was dem Gegenwartsleser ebenfalls aufstoßen könnte, ist der unverhohlene und in häufigen Anrufungen Gottes ausgestellte metaphysische Bezug dieser Dichtung. Wie keine andere Kunst, beweist die Poesie durch ihre pure Existenz die Gegenwart Gottes. Diese unumstößliche Überzeugung und das Vertrauen in ein Eingebettetsein in einen höheren und wohlwollenden Kontext, dieser Holismus durchzieht augenfällig das Werk Amelins. Alles Geschaffene fühlt ja mit seinem offenen Fleische: / Es ist durchstrahlt vom gleißenden Licht, / von nirgends her stammend, / aus einem festen winzigen Punkt, dem forschenden Auge, selbst nicht zu sehn im wirbelnden Strom/ der Menschen und Zeiten, aber darin sind Antworten auch, darin ist Hoffnung.
Ohne Amelin den festen Grund zu neiden, auf dem er weltanschaulich steht, vermisst man in den Gedichten, die schön sind, dennoch ab und an etwas, was die Poesie ebenfalls seit 4000 Jahren kennt: Zweifel und Verzweiflung ohne Antworten. Nicht um einer höheren Wahrheit willen, sondern um zu zeigen, dass sie, die Poesie – auch wenn sie aus dem Bereich des Göttlichen kommt und die von Amelin praktizierte innovactio dei nichts anderes ist als die Fortführung der Anrufung der Muse, mit der schon Homer seine Ilias beginnt – den Menschen betrifft.
Eine weitere Schwierigkeit ist, der Tradition eingedenk zu schreiben und dabei aber bestimmte Teile des Erbes, das man verwaltet einfach auszublenden, so zu tun, als hätten bestimmte Entwicklungen nie stattgefunden. Amelin wehrt sich hier gegen die Vorstellung einer Entwicklung im Sinne einer Weiterentwicklung oder eines Fortschrittes im Bereich der Poesie. Das ist insofern richtig, als es tatsächlich weder etwas Neues noch Fortschritt wirklich geben kann, da alles schon mal da gewesen ist. Dennoch wäre es m.E. zumindest im deutschsprachigen Lyrikkontext nicht denkbar, nach Paul Celans Gedicht tenebrae und der darin zur Anrufung des Todes pervertieren Anrufung des Herrn, diese weiterhin unreflektiert und ungebrochen zu praktizieren.
Alexander Nitzberg, 1969 in Moskau geboren, Herausgeber und Übersetzer des Bandes hat u.a. schon Anna Achmatowa, Wladimir Majakowski und Marina Zwetajewa übersetzt. Für seine Neuübersetzung von Bulgakows Meister und Margarita erhielt er 2013 den Jane Scatcherd-Preis. In seinem äußerst hilfreichen Nachwort formuliert er sein Anliegen als Übersetzer als das Nach-außen-Stülpen aller sprachlichen Absonderlichkeiten des Originals, was ihm auf eindrückliche Art und Weise gelungen ist.
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