In der Sprache Staunen üben
Nicht jeder Mensch verträgt die Wahrheit. Der Kluge allerdings will nicht auf ihr sitzen bleiben. Da sie ein flüchtiges Gut ist, bleibt man ihr nur in der Bewegung nahe. Besitzen kann man sie also nicht. Unter unserm Hintern würde sie ersticken. Man muß das eigene Denken immer wieder entrümpeln von alten Gewißheiten, den Hintern heben und lüften, wenn man Raum haben möchte für neue Gedanken. Es geht dabei nicht um das Betrachten und Zweifeln, sondern darum, ans Licht zu bringen, was zwischen Hintern und Stuhl existiert, wenn man aufsteht und seinen Sitzplatz und seinen Standpunkt verläßt. Nicht mehr als die Möglichkeit. Das Potential.
Unsere Welt ist im Grunde und seit jeher eine Möglichkeitswelt und selbst ihre Fixsterne fallen in Wirklichkeit mitsamt der sie einbettenden Milchstraße durch Raum und Zeit. Es passiert unauffällig genug, um uns Phasen der Gewißheit und der scheinbaren Gültigkeit eines Absoluten zu schenken.
Auffällt, was nicht herabfällt, was also dem weiten, dem klaren Blick widerstrebt. Dem Aphoristiker widerstreben die scheinbar so klaren Dinge, weil er sie nicht abhaken kann. Er fühlt sich nicht wohl in einer nach Menschendenken gefügten Welt, weil er all das besitzende und belastende Denken zurücknehmen und die Dinge neu ins Licht tragen will. Dort fällt es dann auf: das menschliche Denken – als Faktor, nicht als Fakt.
„Aphorismen müssen nicht stimmen. Sie sollen nur anregen, darüber nachzudenken, ob sie stimmen könnten. Ihre Widersprüchlichkeit löst Standpunkte, Ideologien und sonstige Wahrheiten im Wortumdrehen auf. Sie sind Ausdruck eines ironisch-skeptischen Denkens, das in die Ungewißheit über die Erkennbarkeit der Welt jene über unser Erkenntnisvermögen mit einschließt. Sie finden sich meist an vorderster Front von Denken, Fühlen und Ahnen.“, so begrüßt Michael Richter die Leser auf seiner website.
Eine überaus freundliche Begrüßung, wie ich meine, die genau dem entspricht, was mir aus seinem jüngst erschienenen Buch „Einspruch“ im Mitteldeutschen Verlag auch aus seinen „Aphorismen aus artgerechtem Denken“ (so der Untertitel) entgegenspringt. Schon nach wenigen Zeilen steht fest: es ist absolut wohltuend zusammen mit Michael Richter die Wahrheiten dieser Welt unter die aphoristische Lupe zu nehmen, die durchgesessenen Kissen zu entstauben und dabei an die Stelle des nihilistischen Zweifels wieder das Staunen zu setzen. Man hat nicht einen Moment das Gefühl hier sei ein Neunmalkluger in Wortspiele verliebt und wolle als Intelligenzbestie brillieren. Das ist durchweg lebendig, authentisch und aktual. Und nirgends apodiktisch. Richter hat eine wunderbare Gabe, uns teilhaben zu lassen an jenem Moment der Freude, den nur das sinnfreie Erkennen und das Aufbrechen einer neuen Sicht bescheren können, als wäre das Denken Musik.
Und darum geht es dem Aphoristiker. Während der Philosoph Gebäude errichtet und Begriffe zu Systemen anordnet, die er dann auf Tragfähigkeit untersucht, löst der Aphoristiker die Bausubstanz auf und betrachtet das Bauen. „Unsere Philosophie und alles Übrige sind nur ein besonderer Sprachgebrauch“ schrieb einmal Paul Valéry in seinen Cahiers. Wer einmal bis zu dieser radikalen Skepsis vorgedrungen ist und angstfrei und ohne Wertung dem Geschehen des eigenen Denkens gegenüberstand, der kennt den Ort, an dem der Aphoristiker lustvoll dem Auftauchen seiner Verse zusieht. Dieser Ort verbindet den Lyriker mit dem Aphoristiker – es geht um Sprache, es geht um Muster, die entstehen und ihre Frequenz. Nicht um wahr oder falsch.
„Du mußt die Worte abwehren, / wenn sie dich erobern sollen.“ sagt Michael Richter. Ihnen zumindest Widerstand bieten – erst wenn sie in keine von vorneherein festgelegte Nische schlüpfen können, können sie sich neu gebärden. Das Material des Aphoristikers ist die Sprache, auch in Valérys Sinne: „Jede Philosophie ist eine Sache der Form.“ Und die In-Formation übernimmt die Sprache.
Viele Worte haben einen im Alltag längst verlorenen wörtlichen Sinn, manche einen Doppel- oder Mehrfachsinn, einige haben eine interessante Herkunft - dankbare Umstände sind das für Aphoristiker und für Sätze wie diese: „Das Gegenteil von Zukunft ist Herkunft, / nicht Vergangenheit.“ oder diese: „Wenn man in Ruhe gelassen wird, / kann man in Ruhe gelassen werden.“
Gedanken fliegen dir zu,
wenn du ihnen Vermutungen hinstreust.
oder
Man beherrscht nur das,
was man auch lassen kann.
oder
Das Mögliche ist im Wirklichen angelegt,
nicht im Wahren.
Solcherlei Tiefsinnigem stehen kalauernde und humorvolle, satirische Sätze entgegen wie:
Besser man kann, was man nicht darf,
als daß man darf, was man nicht kann.
oder
Als rechte Hand eignet sich,
wer alles mit links macht.
oder
Wir sind auf dem falschen Weg,
und auch die Richtung stimmt.
Hunderte solcher Aphorismen drängen sich, zündende Sätze, voller Überraschungen und ungemein inspirierend. Das Büchlein ist ein wundervolles Geschenk für jeden, der mit Sprache zu tun hat. Der Verlag nennt denn auch die Reihe, in der es erschien, passend vieldeutig „mdv präsent“. Ein Geschenk kann kaum gegenwärtiger sein.
Fixpoetry 2009
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