Können Menschen wie Maschinen denken?
Welche Geschichte! Ein Heranwachsender lernt auf Sylt eine junge Frau kennen, die sich um seinen behinderten Bruder kümmert, trifft sie Jahre später bei einem Gastvortrag zur künstlichen Intelligenz wieder, den er als Student besucht, dient ihr zum Entree, um seinen Ziehvater zu entführen, was misslingt und im Mord endet, und lässt sich vor seinen Augen – wiederum Jahre später – von einem Einsatzkommando der deutschen Polizei erschießen.
Terrorismus der ersten und zweiten Generation, Nationalsozialismus und die schöne neue Welt der KI, Schuld, Ursachen, Motivation – in seinem neuem Roman „Das Lächeln der Alligatoren“ ergänzt Michael Wildenhain seine variantenreiche Reihe der Geschichten um den deutschen Terror und seine Entstehung aus der Empfindsamkeit um eine neue Variante.
Wieder ist es ein junger Mann, der in eine Welt hineinwächst, die er weder versteht, noch die ihn versteht. Wieder stoßen Kulturen aufeinander, die sich nicht einmal angemessen wahrnehmen können, die der Szene, aus der der deutsche Terrorismus wächst und die sich als Subkultur von Generation zu Generation neu zu erschaffen scheint. Und die der Mehrheitskultur, in der Erfolg sich an Erfolg reiht oder Misserfolg an Misserfolg. In der die vergangene Schuld nicht minder selbstverständlich ist wie der souveräne Umgang damit, dass auch die Gegenwart ihre Vergehen kennt und pflegt.
In diesem Fall jedoch kommt die Gewalt nicht erkennbar aus der Empfindsamkeit. Sie kommt aus einem Verhaltensmuster, das dem Helden dieser Geschichte, Matthias, rätselhaft bleiben muss und wird, bis zum Schluss. Die Frau, die er liebt, Marta, sorgt so selbstverständlich um den kleinen Bruder Matthias wie sie – bei der zweiten Begegnung - mit ihm schläft. Nichts was er sich mehr gewünscht hätte. Und ebenso selbstverständlich erschießt sie den Mann, den er seinen Vater nennt, weil der die Vaterrolle angenommen hat. Der Bruder eben nicht. Und ebenso selbstverständlich, nicht zwangsläufig kommt auch ihr Tod, den sie anscheinend herbeiführt und provoziert.
In seinem großen Roman „Die kalte Haut der Stadt“ aus dem Jahr 1991 ist das Kollektiv der Berliner Subkultur, in der sich die meisten Texte Wildenhains bewegen, das Kollektiv, das die Seinen nährt, noch eine romantische Konstruktion. Nun, mehr als zwanzig Jahre später, in diesem Roman ist das Kollektiv, das angeblich all die Handlungen Martas motiviert, nicht einmal mehr erkennbar. Es ist nur eine Behauptung. Die Sprache der Bewegung ist unscharf und verschroben. Eine Fremdsprache, die außerhalb der Szene keiner verstehen kann. Niemand weiß, wovon hier die Rede ist.
Die Engführung mit den Kommuniques der RAF ist sichtbar und sichtbar gewollt. Die Rede ist klischeehaft, voller feststehender Wendungen und ohne sichtlichen Bezug zu dem, was man Realität nennen kann. „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende Klasse selbst, die als letzte geknechtet, als die rächende Klasse auftritt und das Werk der Befreiung von Generationen Geschlagener zu Ende führt.“ Wers erkennt, mag einen Moment hinnehmen, dass das wahnsinnige Sätze sind. Das mag daran liegen, dass unsere „Realität“ für diese Szene so nicht existiert, nie existiert hat, et vice versa.
Das hat alles Ursachen, im Aufstand gegen ein erstarrtes System, das nicht zuletzt dieses Medium brauchte, um sich selbst zu dynamisieren. In der Wut gegen autoritäre Instanzen, die sichtlich überholt waren und den Wechsel in die Postmoderne des politischen Zeitalters nicht überstanden. Das System hat sich wie die Systemgegner selbst aufgehoben, und ist etwas Neuem gewichen, über das nicht zu reden ist, das aber dafür gesorgt hat, dass alles anders geworden ist.
Aber an die Stelle des utopischen Sehnsuchtsortes, der die Protagonisten der frühen Erzählungen antreibt („Indien“) und in die Konfrontation mit der Gesellschaft führt, ist nur noch ein Muster getreten, das weder Herkunft noch Zukunft zu haben, abgeschnitten zu sein scheint – im Übrigen wie das musterhafte Sprechen auf der anderen Seite auch.
Denn Matthias mag zwar im System erfolgreich sein – er tritt schließlich eine Professur für Neurowissenschaften an – aber er ist der anderen Seite rettungslos verfallen. Ein romantisches Motiv, und eine empfindsame Gestalt, die die Nähe zur Gewalt sucht. Aber welche Gewalt?
„Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende Klasse selbst …“ – das sind Sätze aus Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen, deren Rätselhaftigkeit ebenso groß ist wie ihr offensichtlicher Wille, aus dem radikalen Denken radikale Tatkraft zu kreieren.
Daraus ist in der Wirklichkeit dieses Romans nichts geworden. Im Zentrum des Geschehens steht nicht die Klasse, hier stehen ein Junge, der sich später für den Unterschied zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz interessieren wird, sein kleiner Bruder, der nichts kann außer komplizierte Tetraeder zu bauen, eine Frau, die das große Andere will, aber nur Kälte und Tod schafft, bis hin zu ihrem eigenen. Der neue Mensch?
Das romantische Projekt eines geglückten Moments, wenn nicht eines geglückten Lebens, ist in diesem Roman nicht einmal grandios gescheitert. Matthias darf es dabei wie in einem Laborversuch beobachten, wo es all seiner grandiosen Moment entkleidet worden ist. Die Bemächtigung der Erinnerung hat kein befreiendes Moment mehr, sondern nur noch den Sinn, eine einmal begonnene Ereigniskette zuende zu führen.
Wildenhain wäre aber nicht Wildenhain, wenn er gerade darin nicht auch ein Moment der Befreiung sehen würde. Der Tod Martas ist gewünscht – ein negativer, aber gewaltiger Akt, in dem die Idee einer freien Welt aufscheint. „… da wächst das Rettende auch.“
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