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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

seelenruhig werden vielleicht

Ein nachhaltiger Roman darüber, wie man lernt, die eigene Geschichte auszuhalten und sie mit Gegenwart und Zukunft zu einen.
Hamburg

„Lola rennt“ – nein, das ist, wiewohl aufgelegt, nicht ganz treffend, denn die Hauptfigur in Mirna Funks Debütroman Winternähe, für den die Autorin mit dem Uwe-Johnson Förderpreis 2015 ausgezeichnet wird, rennt und läuft nicht, sondern düst oder besser jettet in die Welt hinaus, weil sie es in ihrer Heimatstadt Berlin nicht mehr aushält. Sie fliegt nach Tel Aviv, nach Bangkok, auf eine thailändische Insel, und es ist eine Flucht vor latentem, deutschen Antisemitismus zwischen Israel-Kritik und Israel-Bashing, den lavierenden Meinungspolen Was-hab- ich-mit-dem-Holocaust-zu-tun und Wir-dürfen-den-Holocaust-niemals-vergessen, und es ist eine Flucht auch vor sich selbst, die sie schließlich nach Monaten selbstgewisser nach Berlin zurückkehren lässt.

Lola ist 34, alleinstehend, spontan und ein wenig unbedarft, eine „digital Native“, die viel Zeit mit Internet, Facebook, Instagram usw. verbringt. Sie arbeitet als Fotografin für eine Bildagentur und hat offenbar keine Geldsorgen und -nöte. Lola ist Deutsche, die in die späte DDR geboren wurde und die Veränderungen der Wende als Kind und Jugendliche im geeinten Deutschland erlebte. Vor allem aber ist Lola Jüdin, fühlt und sieht sich als Jüdin, die bei ihren jüdischen Großeltern aufwuchs und deren Erfahrungen als Holocaustüberlebende als essentiellen Teil ihrer eigenen Geschichte begreift. Doch nach den matrilinearen Regeln der Halacha ist sie als Tochter einer Nichtjüdin keine „richtige“, sondern nur Vaterjüdin, ein zentraler Konflikt, der Lola ihr ganzes Romanleben lang beschäftigt.

Nach einer Häufung antisemitischer Erlebnisse kündigt Lola ihren Job und bricht nach Tel Aviv auf, jene Stadt, die sie nach der Übersiedlung ihres Großvaters Gershom schon öfter besuchte und die ihr eine zweite, bisher immer vorübergehende Heimat wurde. Dort erleidet sie einen Zusammenbruch und ist eine Woche lang nicht fähig, ihr Zimmer zu verlassen. Sie trifft Shlomo wieder, einen linken Israeli, mit dem sie bereits in Berlin einige Nächte verbrachte, und es entspinnt sich eine Beziehung, für die „Affäre“ ein zu kleines, „Liebe“ ein zu großes Wort ist, eine Zweisamkeit zwischen Annäherung, die nie zu Nähe wird, und Entfernung.

Mirna Funk war selbst 2014 in Israel und bindet in ihren Roman die aktuelle Zeitgeschichte ein: den Gazakrieg nach der Entführung und Ermordung dreier Israelis sowie der Ermordung eines palästinensischen Jugendlichen, die stete Bedrohung durch Raketenbeschuss und das individuelle Umgehen mit den häufigen Alarmen, oder die Effizienz des Luftabwehrsystems „Iron Dome“, das beim Sprengen von Raketen jene knallenden Booms erzeugt, die einem Donner ähneln, einer Entwarnung gleichkommen und für Israelis zum Alltag gehören. Diese Passagen sind eindringlich und vermitteln, wie es sich anfühlt, in einer instabilen Zone wie dem Nahen Osten zu leben.

Von einem Bekannten erfährt Lola, dass Shlomo als Soldat einst einen palästinensischen Jungen tötete, ein Tod, der ihn veränderte und immer noch belastet. Lola spricht Shlomo nicht darauf an, doch sie sieht ihn plötzlich mit anderen Augen, kann sich nun auch erklären, weshalb er mit ihr am Begräbnis eines palästinensischen Kindes teilnehmen will, und warum er Israel als Apartheidstaat bezeichnet.

Als Lola vom Tod ihres Großvaters erfährt, vermag sie nicht darüber zu sprechen, zettelt statt dessen einen Streit mit Shlomo an und fliegt überstürzt nach Bangkok, ohne ihn über ihre Pläne zu informieren. Zwei Monate verbringt Lola allein auf einer thailändischen Insel und setzt sich der Einsamkeit und ihren Erinnerungen aus: der biographisch erklär-, doch für Lola nicht begreifbaren emotionalen Kälte ihrer Mutter, die in einem Kinderheim aufwuchs und als maximale Nähe das Einhaken der kleinen Finger gestattete, statt ihrer Tochter beim gemeinsamen Gehen die Hand zu reichen oder sie in den Arm zu nehmen, und die bald nach Lolas Geburt das Weite suchte, eine Weite, die sie nur bis Hamburg und trotzdem in eine unüberbrückbare Distanz zu Lola brachte. Oder der Vater, der sich oft wie ein kleines Kind gebärdete, statt Lola verlässliche Stütze zu sein, der Ausdauerlaufen trainierte und bei einem der seltenen gemeinsamen Urlaube durch harte Übungen seine Tochter „holocaustfit“ machen wollte, der schließlich nach Westdeutschland und bald weiter nach Australien floh und Kontaktversuche seiner Tochter behindert. Vielleicht ist das ein Grund, dass im Roman Gefühle der Hauptfigur kaum vorkommen und, wenn doch, psychologisch vereinfacht und sinnlich manchmal nicht nachvollziehbar sind. Exemplarisch lässt sich dies beim Sex festmachen. Lola ist eine junge moderne Frau, die keine Scheu hat, Penisse zu beschreiben oder Oralverkehr – nun ja – emotionslos zu begehen, derart „mechanistisch“ ist er in Worte gepackt. Gefühle beim Sex, Verlangen, Begehren oder Lust, auch Kontrollverlust sind hier kaum zu lesen, werden ausgespart, der Geschlechtsakt selbst scheint nur nach ausreichendem Weingenuss zu ertragen. Selbst SM-Szenen mit einem Fremden sind merkwürdig steril, als wären sie nicht gerade er- und durchlebt. Ich bin geneigt, die emotionale Beschädigung der Hauptfigur hier als Erklärung zu bemühen, andererseits sehe ich in diesem einen Punkt jenen Mangel an Empfinden, der Lola erst von einer Figur oder Puppe zu einer real existierenden Person machte.

Trotzdem bleibt mir nach der Lektüre die Erinnerung an einen konsequent komponierten Roman, der vor Augen führt, was es heute bedeutet, Jüdin zu sein im Netz von Tradition, Religion, Kultur, Geschichte und Verantwortung, in dem keine einfachen Wahrheiten zu finden sind.

Und so treibt Lola dahin. Mehr noch als der Verlust der Mutter, schmerzt Lola der Verlust des Vaters, dem sie in Thailand Briefe schreibt, die sie nie abschicken wird. Einst abgelegt bei den Großeltern blieb als einziger Mensch, von dem Lola in ihrer Kindheit Nähe erfuhr, ihre lebensweise Großmutter Hannah, die als Mensch einfach tat, was zu tun war, die Enkelin aufnahm, mit ihr redete und ihr einen emotionalen Hafen schuf. Und daher ist es vielleicht auch der Krebstod der Großmutter einige Jahre zuvor, der Lola nun entgleiten und diese Tour de Force auf sich nehmen lässt, die fünf lange Monate dauert, sie zu sich und schließlich zu einem Fotoauftrag nach Bangkok und zurück nach Berlin führt.

Mirna Funk
Winternähe
S. Fischer
2015 · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-10-002419-0

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