Der schöne Schein und was er verbirgt
Eines der erstaunlichsten Bücher der Weltliteratur ist der Roman vom Prinzen Genji, in Japan Genji-Monogatari genannt. „Unter welchem Herrscher war es wohl?“ lautet der erste Satz der vor ziemlich genau tausend Jahren zum Roman verwobenen Geschichten, denen die Autorin einen leicht historisierenden Anstrich gegeben hat. Glaubt man Murasaki Shikibu, war die Blütezeit der Kultur des kaiserlichen Heian-Kyoto zur Zeit, in der sie schrieb und als Hofdame wirkte, schon vorbei. Überblickt man den gesamten, umfangreichen Roman, wird man gewahr, daß er Höhepunkt und Verfall einer Epoche darzustellen versucht.
Die Kultur, die Murasaki zu preisen nicht müde wird, ist eine ästhetische im ursprünglichen Sinn des Wortes. In ihrem Zentrum steht die Schönheit, künstliche wie natürliche, menschliche wie landschaftliche und universale Schönheit, mit allen ihren sinnlichen Aspekten. Man legte größten Wert auf den schönen Schein, aber auch auf angenehme Stimmen und Naturgeräusche, auf Musik und Tanz, man staunte nicht nur über den Glanz, den ein Mensch verbreitete, sondern auch über seinen Duft, und selbstverständlich gab man sich der körperlichen Liebe hin. Genji, die Hauptfigur, vereinigt sämtliche Eigenschaften und Fähigkeiten, die hier im Spiel sind, und verkörpert in idealer Form seine Zeit. Sein sinnliches Vermögen baut auf eine ausgeprägte Empfindsamkeit und ein Einfühlungsvermögen, die es ihm erlauben, die selbstbezogenen Triebe, von denen er sich oft genug leiten läßt, in sichere und gefällige Bahnen zu leiten. Das Genji-Monogatari ist neben vielem anderen auch ein psychologischer Roman, der Gemütslagen, Stimmungen und seelische Konflikte auf eine Weise auslotet, daß wir uns den Figuren auch heute nahe fühlen können.
All dies wurde von Lesern und Gelehrten weltweit immer wieder bemerkt, aber der Roman enthält noch mehr. Ja, er wäre langweilig, erschöpfte er sich Episode für Episode in ästhetischen Lobpreisungen und erotischen Eroberungen. Sein Ästhetizismus hängt innerlich zusammen mit der Grausamkeit, die erstens durch die Adelsherrschaft bedingt ist und zweitens von Männern ausgeübt wird, die im Spiel und Kampf der Geschlechter grundsätzlich die Stärkeren und Privilegierten sind. Zwischen Spiel und Kampf, Lebenskunst und Machtintrige gibt es dabei eine Vielzahl von Schattierungen. Genji, selbst eine eher feminine Schönheit, fühlt immerhin mit den Frauen, die er bedrängt und verführt, er kümmert sich um sie und die Kinder, die er ihnen macht, und versucht, sie in einer Art Harem zusammenzufassen, was im Lauf der Jahre freilich immer schwieriger wird, bis ihm das Schiff langsam aus dem Ruder zu laufen droht. Andere, wie Prinz Niou in den sogenannten Uji-Kapiteln, die nach Genjis Tod spielen, sind allein auf ihr egoistisches Interesse bedacht und leben ganz für den erotischen Augenblick, was ihnen allein durch ihre wirtschaftlich-politische Vorrangstellung möglich ist. Sören Kierkegaard unterschied in seiner Analyse des Don Juan-Mythos (vor allem am Beispiel der Oper von Mozart und Da Ponte) zwischen einer ästhetischen und einer ethischen Existenzform. Sein Schema läßt sich ohne weiteres auf das Genji-Monogatari anwenden. Genji gibt sich immerhin Mühe, Ästhetik/Erotik mit einem ethischen Lebensprojekt zu verbinden, auch wenn er dabei zwangsläufig die Quadratur des Kreises verfolgt und immer wieder ins Schleudern kommt. Einer wie Prinz Niou hingegen ist für ein nächtliches Abenteuer zu den übelsten Machenschaften bereit. Im Idealfall, den Genji hin und wieder vorscheinen läßt, wird der himmlische Augenblick per se dauerhaft. Die Liebe verlangt absolute Hingabe, und Genji gelingt es immer wieder, die von ihm Verführte und sich selbst glauben zu machen, daß er für immer und ewig der einen gehört, obwohl er bereits das nächste Abenteuer im Hinterkopf hat. Darin besteht der Trick des Verführers, die strategische Selbsttäuschung Don Juans.
Die wichtigste Frau im Leben Genjis ist Murasaki (der Name der fiktionalen Figur ist im Lauf der Zeit an der Autorin hängen geblieben). Wie ist Genji an sie gekommen? Er hat Murasaki geraubt, als sie ein zehnjähriges Kind war. In einer geschickt eingefädelten Nacht- und Nebelaktion, um dem leiblichen Vater des Kindes, einem hochrangigen Adeligen, zuvorzukommen, der seine kleine Tochter nicht in seinem Haus großziehen konnte oder wollte und sich nun doch wieder auf sie besinnt. Genji beteuert, er wolle das Mädchen nicht sexuell mißbrauchen. Statt dessen beginnt er sogleich mit der Erziehung Murasakis, auf daß sie dereinst perfekt zu ihm und seinen Lebensplänen passe. Murasaki gewöhnt sich langsam an den Entführer. Was sie besänftigt, ist vor allem das „Bezaubernde“ an ihn, das heißt: seine ästhetische Ausstrahlungs- und Anziehungskraft.
Das Genji-Monogatari habe ich nun zum dritten Mal gelesen und auch diesmal keinen Übergang vom Entführer zum Verführer, von der Vater-Tochter-Beziehung zum Mann-Frau-Verhältnis bemerkt. Irgendwann – nach der Zeit, die Genji im Exil verbringen mußte – ist sie ganz selbstverständlich seine Frau, und sie sträubt sich auch nicht gegen ihn, im Gegenteil. Nur einmal wird im Roman eine zwiespältige Szene beschrieben, wo Murasaki noch unreif ist, ein Kind auch nach dem Verständnis der Heian-Gesellschaft, und sich verängstigt seinem Ansinnen entzieht, mit ihr zu schlafen. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Akashi, wo er sich eine andere wunderbare Frau angelacht und mit ihr ein Kind gezeugt hat, ist Murasaki plötzlich seine Hauptfrau und wird es auch bleiben. Sie verwaltet sein Anwesen in Kyoto, enthält sich weitgehend der Eifersucht (in Genjis Augen eine ihrer größten Tugenden) und kümmert sich um die Tochter, die er mit der Akashi-Frau in die Welt gesetzt hat. Aus Gründen, die mir nie klar geworden sind, kann ihm Murasaki selbst „leider“ kein Kind schenken.
Oft wurde spekuliert, daß die letzten zehn Kapitel des Monogatari gar nicht von Murasaki Shikibu stammen. Mir scheint das nicht so wahrscheinlich, denn die Komposition folgt einer epischen Logik, und selbst der ziemlich abrupte Schluß, wo nichts, aber auch gar nichts mehr weitergeht, könnte in dieser Form beabsichtigt sein. Die beiden männlichen Haupthelden sind hier Prinz Niou und Kaoru, die man als Ergebnis einer Aufspaltung des Genji-Typus in zwei gegensätzliche Charaktere lesen könnte: Hier der zwar schöne, auch begabte und leidlich musische Draufgänger, dort der zögernde, nicht so sehr im Augenblick lebende, sondern immer auch vergangenheitsbezogene, meist großmütige Intellektuelle, eine Art japanischer Hamlet. Niou jagt seinem „Freund“ die Geliebte ab, die dieser sich hält, weil sie ihn an seine frühere, inzwischen verstorbene Freundin erinnert. Ukifune hat kaum eine Chance, sich dem Schürzenjäger Niou zu entziehen. Sie wird sich später selbst beschuldigen, weil sie ihm nicht genügend Widerstand geleistet hat. Ihr Selbstmordversuch ist aber nichts anderes als die konsequente Reaktion einer klugen Frau, die sich von zwei auf unterschiedliche Art grausamen Männern in eine Sackgasse und schließlich an die Wand gedrängt sieht: „Während der Morgen dämmerte, blickte sie auf den Uji-Fluß hinaus, und es war ihr mehr zum Sterben zumute als einer Ziege, die man zum Schlachten treibt.“ Die Ziege ist eigentlich ein Schaf, der Satz verweist auf ein buddhistisches Sutra; die mittlerweile fünfzig Jahre alte, bieder-akademische Übersetzung von Oscar Benl ist hier wie an anderen Stellen etwas unsicher.
Ukifune ist meines Wissens die erste Selbstmörderin der Literaturgeschichte. Sie selbst fragt sich, als sie sich zu ihrem Entschluß durchringt, ob es denn in der Geschichte wirklich keine Frau gegeben habe, die ihrem Leben ein Ende setzte. Wie Ukifune den Sprung von der Brücke ins reißende Wasser des Uji-Flusses überlebt, läßt der Roman in der Schwebe. Es könnten Geister, an die man damals glaubte, ihre Hände im Spiel gehabt haben. Ukifune verliert für einige Zeit die Erinnerung, und zuletzt gelingt es ihr, Nonne zu werden und sich damit vor weiteren Angriffen der Männer, die nicht auf sich warten lassen, für immer zu schützen. Ukifunes Verweigerung gegenüber der Welt des schönen Scheins ist radikal und unwiderruflich. Sie bedauert es zwar, nicht „noch einmal sterben“ zu können, aber diese Art, sich „der Welt“ zu entziehen, setzt für den Leser ein noch deutlicheres Zeichen.
Auf die Zusammenhänge zwischen Ästhetizismus und Grausamkeit geht der Japanologe Oscar Benl im Vorwort zu seiner Genji-Übersetzung nicht ein. Fast fünfzig Jahre später hat sein Kollege Eduard Klopfenstein ein Nachwort hinzugefügt, das die Ausführungen Benls weitgehend wiederholt. Ein wenig ergeht er sich in den beliebten Mutmaßungen zum weltliterarischen Status des Monogatari. Vergessen wurde und wird dabei oft, daß es sich um höfische Literatur handelt. Die Memoiren des französischen Hofmanns Saint-Simon, die zahllose, oft einfühlsam sympathisierende, manchmal auch satirische Porträts aus dem Hofleben zur Zeit Ludwigs XIV. enthalten, ließen sich mit dem japanischen Monogatari vergleichen. Sodann hat man mit gutem Grund auf die Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust, der Saint-Simon hochschätzte, hingewiesen. Empfindsamkeit, Schönheitskult und weicher Stil verbinden die beiden so weit auseinanderliegenden Werke miteinander. Die Weichheit, die offenbar nicht nur auf das Geschlecht Murasaki Shikibus zurückzuführen ist, sondern zum ästhetizistischen Selbstverständnis einer Zeit gehört, die Literatur, Musik und Liebeskunst weit über die Kriegskunst stellte, umspielt freilich einen triebhaften und harten Kern, der da und dort zum Ausdruck, seltener zum Ausbruch kommt. Es verhält sich damit ähnlich wie mit jenen Werken Adalbert Stifters, die man lange Zeit ebenfalls für uneingeschränkt friedvoll halten wollte. Auch bei Stifter lugt der Selbstmord als letzte Ausflucht immer wieder zwischen Zeilen hervor, die das sanfte Gesetz beschwören.
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