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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Jeder gegen jeden!

Nora Bossong beschreibt den Niedergang eines Familienunternehmens.
Hamburg

Man sollte sich von den Ausführungen auf dem Schutzumschlag nicht in die Irre führen lassen. Nora Bossongs neuer Roman „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ handelt allenfalls am Rande vom Aufstieg eines Familienunternehmens; im Mittelpunkt steht vielmehr dessen Untergang. Und auch von den vier Generationen, von denen dort die Rede ist, erfährt man Näheres lediglich über die letzten beiden. Vom Urgroßvater Justus, dem Gründer von Tietjenfrottees, weiß man kaum mehr, als dass er im Ersten Weltkrieg, obwohl ein Mann von patriotischer Gesinnung, nicht nur das deutsche Herr mit Frotteehandtüchern belieferte, sondern auch die französische Seite - wenngleich mit einem Aufschlag von 300 Prozent - und so den Grundstock für den Aufstieg des Essener Unternehmens gelegt hatte. Nach seinem Tod führen die Söhne die Firma fort. Und auch wenn sie mit ihrem Traum scheitern, den Absatz von „Tietjen und Söhne“ auf den US-Markt auszuweiten, gehen die Geschäfte – alles in allem – ausgezeichnet. Man beschäftigt gut 230 Mitarbeiter, Konkurrenz ist vorhanden, wenngleich im erträglichen Maße, die Familie Tietjen gilt etwas im Ruhrgebiet, die Villa ist geräumig, die Männer führen das Unternehmen, die Frauen kümmern sich um den Rest, oder befinden sich, wie im Fall von Kurt seniors Enkeltochter, in der Psychiatrie. Dem Strukturwandel in der Region ist man entgegengetreten, indem man, wie alle anderen auch, die Produktion des weichen Frottees rechtzeitig ins raue China verlagert hat. Das verursacht zwar wegen der dortigen Arbeitsbedingungen den einen oder den anderen Bauchschmerz, ein Arbeiter hat sich vor kurzem in den Tod gestürzt, ist in der Summe aber doch erträglich.

Kurzum, Nora Bossong zeichnet das Bild einer mittelständischen Unternehmerfamilie, in der Gefühle als Schwäche gelten, das Entenconfit von den Hausangestellten aufgetragen wird und die Männer, so zumindest hat man es beim Lesen vor dem inneren Auge, Anzugkombinationen tragen, die Jupie Heesters zur Ehre gereicht hätten: helle Hose, dunkelblaues Jackett, Goldknöpfe.

Doch das alles ist mittlerweile nurmehr Fassade. „Tietjen und Söhne“ befindet sich nicht nur in der dritten Generation, sonder auch am Rande des Ruins. Die Schulden drücken, die Absatzzahlen sind rückläufig und wegen der gestiegenen Kosten in China ist die Produktion der Konkurrenz längst nach Bangladesch weitergezogen – ein Trend, den man bei „Tietjen und Söhne“ verschlafen hat. Anstatt jedoch die Zügel in die Hand zu nehmen und das Unternehmen wieder auf Kurs zu führen, setzt sich Kurt junior ankündigungslos nach New York ab. Zuvor hatte er noch die eigene Firma – Tietjen gegen Tietjen – wegen Korruption vor Gericht gezerrt – und verloren.  

Hier setzt dann auch die eigentliche Geschichte an, die Nora Bossong (Jahrgang 1982) in ihrem dritten Roman – nach „Gegend“ (2006) und „Webers Protokoll“ (2009) – erzählt; in New York, wo „Tietjen und Söhne“ bereits zweimal mit seinen Expansionsplänen gescheitert ist, und nun auf den endgültigen Untergang zusteuert. Denn Kurt junior weigert sich beharrlich, die Geschicke des Unternehmens aus der Hand zu geben, trotz seines Rückzuges in ein New Yorker Armenviertel, wo er mit Fanny, seiner neuen Freundin, lebt, oder besser gesagt: vor sich hinvegetiert. Stattdessen sieht er mit masochistischem Genuss dabei zu, wie sein Unternehmen – und damit seine Familie – gegen die Wand fährt.

Allerdings hat er die Rechnung ohne seine Tochter Luise gemacht. Diese besucht ihn zwar regelmäßig in seinem selbstgewählten Exil, gleichwohl wird die Entfernung zwischen den beiden spürbar größer. Luise, die sich bereits bei der Wahl des Studienfaches gegen den Willen des Vaters und für Wirtschaft statt Philosophie entschieden hatte, greift nach der Unternehmensführung, unterstützt von dem aufstrebenden Krays, mit dem sie nebenbei noch eine Affäre unterhält. Nach einer kurzen Phase der zögerlichen Orientierung – das Machotum erweist sich auch im Frotteegeschäft als recht verbreitet – schaltet sie auf Angriff: Teile der Geschäftsführung werden kaltgestellt, ineffektive Mitarbeiter gefeuert und unrentable Verträge mit China aufgekündigt. Was zunächst nach wirtschaftlicher Erholung aussieht, erweist sich jedoch rasch als Vabanquespiel der Juniorchefin, das auch an den Grenzen der Legalität nicht haltmacht. Um die unausweichliche Insolvenz zu verschleiern und neue Geschäftspartner – Bloomingdale’s in, wie kann es anders sein, New York! – zu gewinnen, werden kurzerhand Zahlen geschönt und Bilanzen gefälscht. Das allerdings führt dazu, dass die destruktiven Kräfte von Vater und Tochter (ungewollt) zusammenfinden und sich gegenseitig noch verstärken: Durch alte Seilschaften auch weiterhin gut über die Vorgänge im Unternehmen informiert – und unterstützt von Fanny, die hier als gefeuerte Bilanzbuchhalterin ihre Expertise einbringen kann –, konfrontiert Kurt kurz vor seinem Tod Luise mit ihren Betrügereien – und versetzt „Tietjen und Söhne“ so den von ihm lange herbeigesehnten Todesstoß.

In ihrem neuen Roman hat Nora Bossong die Wirtschaftskrise aufgegriffen, und mit dem Niedergang eines Familienunternehmens – man könnte auch sagen: einer Familie – im Ruhrgebiet verknüpft. Was als Familiensaga beginnt, entwickelt sich mit der Zeit immer mehr zu einem (v)erbitterten Zweikampf zwischen Vater und Tochter, der zwischen Essen, New York, China und Bangladesch ausgetragen wird, und an dessen Ende für alle Beteiligten der wirtschaftliche und persönliche Abgrund steht.

Auch wenn die Auswahl der Themen – Mittelstand, Wirtschaftskrise, Insolvenzrecht – auf den ersten Blick überraschen mögen, die Autorin meistert die Herausforderungen souverän, was u.a. daran liegen dürfte, dass sie sowohl New York als auch China aus eigenem Erleben – Bossong war an beiden Orte Writer-in-residence – kennt. Selbst die Darstellung des mittelständischen Unternehmertums mit all seinen innerfamiliären Rivalitäten, Eifersüchteleien und einer gehörigen Portion Standesdünkel ist ihr gelungen. Kritisieren ließe sich allenfalls die bisweilen etwas überambitionierte Konstruktion des Romans, wobei nicht die erzähltechnisch raffinierten Wechsel von Raum und Zeit gemeint sind, sondern das Bemühen, den entscheidenden Orten und Geschehnissen – China, Macy’s – im Verlauf der Handlung stets eine dramaturgische Wiederkehr zu verschaffen.

Nora Bossong
Gesellschaft mit beschränkter Haftung
Hanser
2012 · 304 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-446239753

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